Das Sigma-Protokoll
Die ersten Zahlen waren 431. Woher kam der Anruf? Die Zahlen kamen ihm bekannt vor. Irgendein Land in Europa, da war er sich sicher.
Der Anrufbeantworter schaltete sich ein.
»Gaston? Gaston?«, rief eine Männerstimme.
Dann kamen ein paar französische Worte, die Ben nicht verstand. Aber der Anrufer sprach mit einem deutlichen Akzent, anscheinend war er kein Franzose.
Wer rief Rossignol an? Und warum?
Ein anderes Klingeln: die Türglocke.
Er rannte zurück zum Hintereingang, schaute nach, ob die Luft rein war, lief um das Haus herum und versteckte sich hinter einem hohen Busch, von wo er die Straße sehen konnte. Ein weißer Streifenwagen setzte sich gerade in Bewegung. Routinepatrouille, nahm Ben an.
Ein niedriger schmiedeeiserner Zaun trennte Rossignols Grundstück von dem seines Nachbarn. Ben sprang über den Zaun in den Nachbargarten, der ungefähr so groß war wie der Rossignols, allerdings bei weitem nicht so liebevoll gepflegt. Trotz des Risikos, gesehen zu werden, lief Ben direkt am Haus vorbei und gelangte unbehelligt zur Hauserstraße. Er sprintete die fünfzig Meter bis zum Range Rover, riss die Tür auf, sprang hinein und ließ den Motor an.
Hastig wendete er und fuhr die steile Straße hinunter Richtung Innenstadt, wobei er sich dazu zwang, nicht schneller zu fahren als die ihrem Arbeitsplatz zustrebenden Züricher.
Vor ein paar Minuten hatte jemand versucht, Rossignol anzurufen. Jemand, dessen Vorwahl mit den Ziffern 431 begann.
Er kannte die Nummer. Aber woher? Plötzlich machte es klick.
Wien!
Der Anruf war aus Wien gekommen. Was hatte Liesl gesagt?
Diese Männer haben Nachfolger, haben Erben. Einer von ihnen lebte laut Mercandetti in Wien: der Sohn des KZ-Arztes Gerhard Lenz. Rossignol war tot. Warum nicht der Spur nach Wien folgen? Das war zwar alles andere als eine verlässliche Fährte, aber es war wenigstens eine Möglichkeit. Zumal er keine große Auswahl hatte.
Ein paar Minuten später war er in der Innenstadt, ganz in der Nähe vom Bahnhofplatz. An dem Ort, wo Jimmy Cavanaugh ihn hatte töten wollen. Wo alles begonnen hatte.
Er musste mit dem nächsten Zug nach Wien.
Die österreichischen Alpen
Es klopfte leise an der Tür. Der alte Mann rief gereizt: »Ja?«
Ein Arzt in weißem Kittel kam herein - ein kleiner dicker Mann mit nach vorn gekrümmten Schultern und Schmerbauch.
»Alles zu Ihrer Zufriedenheit, Sir?«, fragte der Arzt. »Gefällt Ihnen die Suite?«
»Das nennen Sie Suite?«, sagte Patient Achtzehn, der in seinem verknitterten Dreiteiler auf dem schmalen Einzelbett lag. »Das ist eine gottverdammte Mönchszelle.«
Der Raum war tatsächlich nur spärlich eingerichtet. Bett, Schrank, Schreibtisch mit Leselampe, Stuhl, Fernseher. Der Boden war gefliest, kein Teppich.
Der Arzt lächelte schwach. »Ich bin Dr. Löfquist«, sagte er und setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Bett stand. »Ich möchte Sie willkommen heißen und gleichzeitig warnen. Sie haben zehn harte und schwierige Tage vor sich. Die Tests Ihrer Physis und Psyche werden sich als außerordentlich strapaziös erweisen.«
Patient Achtzehn machte sich nicht die Mühe, sich aufzusetzen. »Warum zum Teufel wollt ihr meine Psyche testen?«
»Nun ja, nicht jeder erweist sich als qualifiziert.«
»Und wenn Sie mich für plemplem halten?«
»Wer sich als ungeeignet für unsere Zwecke erweist, den müssen wir leider nach Hause schicken.«
Der Patient sagte nichts.
»Sie sollten sich jetzt erst mal ausruhen, Sir. Der Nachmittag wird anstrengend werden. Auf dem Programm stehen eine Röntgenuntersuchung des Brustkorbs mittels CAT Scan und ein paar kognitive Tests. Und natürlich der Standardtest, ob Sie unter Depressionen leiden.«
»Blödsinn. Ich habe keine Depressionen«, blaffte der Mann ihn an.
Ohne auf seinen Einwurf zu achten, fuhr der Arzt fort: »Ich möchte Sie noch darauf hinweisen, dass Sie heute kein Abendessen bekommen, damit wir bei der Blutentnahme morgen früh so exakte Werte wie möglich erhalten. Cholesterin, Triglyzeride, Lipoproteine etc.«
»Wie bitte? Kein Abendessen? Kommt überhaupt nicht infrage.«
»Sir«, sagte der Arzt und stand auf, »es steht Ihnen frei, jederzeit zu gehen. Wenn Sie bleiben und wenn man Sie für geeignet erachtet, dann werden Sie die Prozedur als langwierig und ziemlich schmerzhaft empfinden. Sie sehen, ich bin ganz offen. Aber Sie werden dabei auch eine Erfahrung machen, wie Sie sie in Ihrem ganzen Leben noch nicht gemacht haben. Das kann ich Ihnen
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