Das Sigma-Protokoll
benutzen wollte, musste er sich unbedingt Munition besorgen. Er steckte sie in die Jackentasche, ging zur Haustür und klingelte. Keine Antwort. Er klingelte ein zweites Mal.
Nichts rührte sich.
Er drückte die Klinke. Die Tür war verschlossen.
Im Carport neben dem Haus stand ein ziemlich neuer Mercedes. Rossignols Wagen?
Er drehte sich um und wollte schon gehen, als ihm die Idee kam, es an den anderen Türen des Hauses zu probieren. Vorbei an gepflegten Blumenbeeten ging er über den frisch gemähten Rasen um das Haus herum. Jemand hielt das Anwesen gut in Schuss. Die von Blumenbeeten eingefasste Rasenfläche war größer als die vor dem Haus. In der Mitte einer großen Terrasse stand ein Pavillon, etwas abseits eine Gruppe Liegestühle.
Ben ging zur Hintertür und drückte die Klinke herunter.
Die Tür war nicht verschlossen.
Er schob die Tür langsam nach innen auf. Sein Puls beschleunigte sich. Jede Sekunde musste die Alarmanlage aufheulen. Nichts.
War Rossignol zu Hause? Oder das Hausmädchen, die Köchin, ein Familienmitglied?
Er stand in einem dunklen, gefliesten Raum, einer Art Vorraum. Mäntel hingen an Haken, zahlreiche Holzspazierstöcke mit verzierten Griffen standen in einem Ständer. Dahinter befand sich ein kleines Arbeitszimmer, in dem nur ein großer Schreibtisch und ein paar Bücherregale standen. Gaston Rossignol, einst eine der Säulen des Schweizer Bankwesens, war anscheinend ein Mann ohne große Ansprüche.
Auf dem Schreibtisch lag eine grüne Kladde. Daneben stand ein schwarz glänzendes Panasonic-Telefon mit dem modernsten Schnickschnack: Konferenzschaltung, Nummern-Display, Freisprecheinrichtung, digitaler Anrufbeantworter.
Während er das Telefon betrachtete, klingelte es. Es war ohrenbetäubend laut, die Lautstärke musste bis zum Anschlag aufgedreht sein. Wie betäubt starrte er das Telefon an und wartete darauf, dass sich die Tür öffnete und Rossignol hereinspazierte. Es klingelte viermal, dann hörte es auf.
Er wartete.
Niemand hatte abgehoben. Hieß das, dass keiner im Haus war? Er schaute auf das Display und sah eine lange Nummer. Ferngespräch.
Vorsichtig betrat er einen Flur und ging weiter ins Innere des Hauses. Er hörte ganz leise Musik. Klang wie Bach. Aber woher kam die Musik? War also doch jemand im Haus? Ganz am Ende des Flurs sah er unter einer Tür einen Lichtstreifen. Er ging darauf zu, die Musik wurde lauter.
Er öffnete die Tür und befand sich in einem eleganten Speisezimmer. Links an der Wand stand auf einer Anrichte ein tragbarer Kassettenrekorder - eine Cello-Suite von Bach. Auf dem langen Tisch in der Mitte des Raums lag eine makellos weiße Tischdecke, darauf stand ein Silbertablett mit einem silbernen Teeservice. Am Tisch, mit dem Rücken zu Ben, saß ein alter Mann in einem Rollstuhl. Die kahle, gebräunte Schädeldecke war gesäumt von einem grauen Haarkranz. Der Mann hatte einen Stiernacken, und seine Schultern waren nach vorn gezogen. In seinem rechten Ohr steckte ein Hörgerät.
Wo war das Hausmädchen, das ihm den Tee serviert hatte?
Der alte Mann schien nicht gehört zu haben, dass Ben den Raum betreten hatte.
Ben schob die Hand in die Tasche seiner Lederjacke und zog den Revolver langsam heraus. Der alte Mann rührte sich nicht. Er musste sein Hörgerät abgestellt haben.
Ben zuckte zusammen, als plötzlich das Telefon wieder klingelte. Ihm kam es genauso laut vor wie eben, als er in dem kleinen Arbeitszimmer gewesen war.
Der Alte bewegte sich immer noch nicht.
Es klingelte ein zweites, ein drittes, ein viertes Mal. Dann hörte es auf.
Eine Stimme drang vom Flur ins Speisezimmer. Ben brauchte eine Sekunde, bis er begriff, dass jemand eine Nachricht auf Band sprach. Die Stimme klang panisch, allerdings konnte er nichts verstehen.
Er machte zwei Schritte vorwärts und drückte dem alten Mann die Mündung an die Schläfe. »Keine Bewegung.«
Der Kopf fiel nach vorn.
Ben packte mit der freien Hand eine Armlehne des Rollstuhls und drehte ihn ruckartig herum.
Das Kinn des alten Mannes lag auf der Brust, die weit aufgerissenen Augen starrten leblos auf den Boden.
Ben spürte, wie er in Panik geriet.
Er griff nach der Teekanne. Sie war noch warm.
Anscheinend war Rossignol erst vor wenigen Minuten gestorben. Hatte man ihn ermordet? Wenn ja, war dann der Mörder noch im Haus?
Er rannte in den Flur zurück und erreichte gerade das Arbeitszimmer, als das Telefon erneut klingelte. Das Nummern-Display: wieder eine lange Ziffernreihe.
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