Das Sigma-Protokoll
ihrem verschlüsselten Handy zurückgerufen.
Volltreffer.
Laut Auskunft von Hartmans Büro machte er in der Schweiz Urlaub, hatte sich aber schon seit Tagen nicht mehr gemeldet. Seine Reiseroute war unbekannt, weil er keine hinterlassen hatte. Sein Büro konnte sich nicht mit ihm in Verbindung setzen.
Doch dann hatte die ICU noch etwas in Erfahrung gebracht: Hartman hatte einen Zwillingsbruder gehabt, der vor vier Jahren bei einem Flugzeugabsturz in der Schweiz ums Leben gekommen war. Dieser Bruder war anscheinend im Zusammenhang mit dem Nazigold auf einer Art Kreuzzug gewesen. Anna konnte sich darauf keinen Reim machen; es ergaben sich nur jede Menge neuer Fragen.
Und Benjamin Hartman selbst war stinkreich. Er arbeitete für Hartman Capital Management, eine von seinem Vater gegründete Investmentfonds-Gesellschaft.
Max Hartman war ein bekannter Philanthrop und ein Überlebender des Holocaust.
Die Möglichkeiten drängten sich geradezu auf. Der arme Sohnemann eines KZ-Überlebenden verbeißt sich in die Vorstellung, dass die Schweizer Bankiers den Holocaust-Opfern Unrecht getan haben. Der Zwillingsbruder setzt den Kreuzzug fort und will Rache üben an irgendeinem Schweizer Bankierbonzen. Ein reiches Bürschchen auf Vendetta.
Oder er steckte noch tiefer drin und arbeitete für die Gruppe, die aus diesem Sigma-Laden hervorgegangen war. Warum auch immer.
Die nächste Frage lautete, woher er die Namen der alten Männer und die Adressen ihrer Verstecke hatte.
Und was hatte der Tod seines Bruders mit all dem zu tun? Wenn er überhaupt damit zusammenhing.
Kurz nach neun ging sie zurück ins Hotel, wo ihr der Nachtportier eine Nachricht übergab. Thomas Schmid von der Züricher Polizei hatte angerufen.
Sie telefonierte vom Zimmer aus. Er war noch im Büro.
»Wir haben ein paar Teilergebnisse von der Autopsie«, sagte er. »Auch über dieses Gift, nach dem Sie gefragt haben.«
»Und?«
»Man hat in der Augenflüssigkeit tatsächlich dieses Nervengift gefunden. Rossignol wurde vergiftet.«
Anna setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Telefon stand. Endlich ein Fortschritt. Sie spürte dieses wohlige Prickeln, das sie immer empfand, wenn sie einen Durchbruch erzielt hatte. »Hat man eine Einstichstelle gefunden?«
»Noch nicht. Sie suchen noch. Sie sagen, dass es extrem schwierig ist, so winzige Pünktchen überhaupt festzustellen.«
»Wann genau ist er gestorben?«
»Anscheinend heute Morgen, kurz bevor wir gekommen sind.«
»Das heißt, dass Hartman noch in Zürich sein könnte. Haben Sie das im Griff?«
Eine kurze Pause, dann Schmids kühle Antwort. »Ja.«
»Irgendwas Neues von Rossignols Kontoauszügen?«
»Die Banken spielen mit. Aber es dauert etwas. Dienstwege, Sie verstehen.«
»Sicher, sicher.«
»Bis morgen müssten wir die Unterlagen eigentlich haben.«
Ein Piepsen in Annas Hörer unterbrach Schmid. »Sekunde, ich glaube, da kommt ein Anruf rein«, sagte sie und drückte auf den Knopf >Rezeption<. Der Nachtportier teilte ihr mit, dass jemand aus Ihrem Büro in Washington in der Leitung sei.
»Miss Navarro? Hier Robert Polozzi, ICU.«
»Was gibt’s?«
»MasterCard hat eben angerufen. Hartman hat vor ein paar Minuten seine Karte benutzt. Er hat eine Rechnung in einem Wiener Restaurant bezahlt.«
Kent, England
Sir Edward Downey, englischer Premierminister im Ruhestand, spielte im Rosengarten seines Landsitzes in Westerham, Kent, gerade eine Partie Schach mit seinem Enkel, als das Telefon klingelte.
»Nicht schon wieder«, maulte der achtjährige Christopher.
»Reiß dich zusammen, junger Mann«, rief Sir Edward seinen Enkel gutmütig zur Ordnung.
»Sir Edward? Holland hier.«
»Mr. Holland, ist alles in Ordnung?«, fragte Sir Edward und machte sich plötzlich aus unerklärlichen Gründen Sorgen. »Unser Treffen findet doch wie geplant statt, oder?«
»Sicher, Sir. Es hat sich lediglich ein kleines Problem ergeben. Möglicherweise könnten Sie uns behilflich zu sein.«
Während er zuhörte, schnitt Sir Edward eine bedrohliche Grimasse in Richtung seines Enkels, worauf dieser wie immer mit einem Kichern reagierte. »Nun, Mr. Holland, vielleicht lässt sich die Angelegenheit mit ein paar Telefonaten regeln. Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Wien
Jürgen Lenz’ Haus lag in Hietzing, einem exklusiven, dicht bewaldeten Viertel im Südwesten von Wien. Hier residierten die reichsten Familien der Stadt. Lenz wohnte in einer großen,
modernen Villa, einer faszinierenden Mischung
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