Das Sigma-Protokoll
Wänden hingen alte Meister in vergoldeten Rahmen, jedes Gemälde beleuchtet von einem eigenen kleinen Spotlight. Auf einem Tisch neben der Couch standen Fotos in silbernen Rahmen. Wahrscheinlich Familienmitglieder. Ein Foto von Lenz’ Vater war bemerkenswerterweise nicht dabei.
»Jetzt aber Schluss mit meiner Arbeit«, sagte Ben. »Erzählen Sie mir von der Lenz-Stiftung. Soweit ich weiß, sehen Sie Ihre Hauptaufgabe darin, die Forschungen zum Thema Holocaust zu fördern.«
»Wir unterstützen historische Forschungsprojekte, das stimmt, und wir spenden auch an Bibliotheken in Israel«, erwiderte Jürgen Lenz. »Tatsächlich investieren wir sehr viel Geld, um den Hass in der Welt zu bekämpfen. Wir sind der Meinung, dass es
sehr wichtig ist, dass österreichische Schüler über die Verbrechen der Nazis Bescheid wissen. Sie dürfen nicht vergessen, Mr. Simon, dass vielen Österreichern die Nazis willkommen waren. Als Hitler in den Dreißigerjahren nach Wien kam, hielt er auf dem Balkon des Imperial eine Rede. Unglaubliche Menschenmengen wollten ihn sehen, Frauen brachen bei seinem Anblick in Tränen aus.« Lenz seufzte. »Widerwärtig.«
»Aber Ihr Vater... Entschuldigen Sie, wenn ich das anspreche...«
»Mein Vater war ein Unmensch, das ist eine historische Tatsache«, sagte Lenz. »Er hat in Auschwitz abscheuliche, unglaubliche medizinische Experimente an Kindern durchgeführt.«
»Würden Sie mich bitte entschuldigen?«, sagte Ilse Lenz und erhob sich. »Ich kann das nicht hören«, erklärte sie leise. Dann ging sie hinaus.
»Entschuldige, Liebling!«, rief Lenz ihr hinterher. Dann wandte er sich wieder Ben zu. »Ich kann ihr keinen Vorwurf machen. Ihr Vater ist im Krieg gefallen, als sie noch ein Kind war.«
»Tut mir Leid, dass ich das Thema angesprochen habe«, sagte Ben.
»Aber ich bitte Sie. Das ist doch die selbstverständlichste Frage der Welt. Ist doch klar, dass es einem Amerikaner seltsam vorkommen muss, wenn der Sohn des berüchtigten Gerhard Lenz sein Leben der Aufgabe widmet, Geld für die Erforschung der Verbrechen seines Vaters aufzutreiben. Sie müssen wissen, dass die, denen das Schicksal diese Last beschert hat - nämlich als Kinder von prominenten Nazis geboren zu sein - mit dieser Situation völlig unterschiedlich umgehen. Manche, wie Rudolf Hess’ Sohn Wolf, versuchen ihr Leben lang, den Namen des Vaters reinzuwaschen. Andere werden nie mit der Tatsache ihrer Herkunft fertig. Ich selbst habe keine persönliche Erinnerung an meinen Vater, ich war noch zu klein. Aber viele kennen ihre Väter nur als ganz normale Familienväter, nicht als Hitlers Helfer.«
Während er sprach, wurde Jürgen Lenz immer leidenschaftlicher. »Wir waren privilegierte Kinder. Wir wurden auf dem Rücksitz großer Limousinen durchs Warschauer Ghetto gefahren und haben uns gefragt, warum die Kinder da draußen so traurig sind. Wir haben das Leuchten in den Augen unserer Väter
gesehen, wenn der Führer höchstpersönlich angerufen hat, um der Familie Frohe Weihnachten zu wünschen. Und als wir alt genug waren, haben einige von uns unsere Väter und alles, wofür sie eintraten, verachtet. Wir haben sie mit jeder Faser unseres Wesens verabscheut.«
Lenz’ erstaunlich jugendliches Gesicht hatte sich gerötet. »Ich sehe meinen Vater nicht als meinen Vater. Er ist wie ein Fremder für mich. Kurz nach Kriegsende ist er nach Argentinien geflohen. Mit gefälschten Papieren außer Landes geschmuggelt, sie haben sicher davon gehört. Er hat meine Mutter und mich völlig mittellos in einem Kriegsgefangenenlager zurückgelassen.« Er hielt kurz inne. »Ich persönlich hatte nie Zweifel über die Rolle der Nazis oder innere Konflikte deswegen. Diese Stiftung zu gründen war das Mindeste, was ich tun konnte.«
Für ein paar Sekunden herrschte Stille im Raum.
»Ich bin nach Österreich gegangen, um hier Medizin zu studieren«, fuhr er fort. »In gewisser Weise war ich damals erleichtert, Deutschland verlassen zu können. Ich lebte gern hier und bin dann auch geblieben. Wien ist meine Geburtsstadt. Später habe ich eine Praxis eröffnet und versucht, so anonym wie möglich zu bleiben. Nachdem ich Ilse kennen gelernt hatte, die Liebe meines Lebens, mussten wir entscheiden, was wir mit dem ererbten Geld ihres Vater machen sollten. Ihr Vater hatte als Verleger mit religiöser Literatur und Gesangbüchern ein Vermögen verdient. Also haben wir beschlossen, dass ich die Praxis aufgebe und fortan das bekämpfe, wofür mein
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