Das Sigma-Protokoll
Waffe. Höchst unwahrscheinlich, dachte sie, dass Hartman überhaupt Widerstand leisten würde. Die Nachforschungen hatten ergeben, dass er nie eine Waffe besessen oder auch nur einen Waffenschein beantragt hatte. Die alten Männer
waren alle an Gift gestorben, das man ihnen mit einer Spritze injiziert hatte.
Tatsächlich wusste sie zwar nicht viel über Hartman, aber immer noch mehr als ihre Wiener Kollegen. Ihrem Freund Fritz Weber hatte sie nur erzählt, dass man am Tatort in Zürich Fingerabdrücke des Amerikaners gefunden hätte. Und auch Heisler wusste nur, dass Hartman in Zusammenhang mit dem Rossignol-Mord gesucht wurde. Das hatte der österreichischen Bundespolizei gereicht, um auf Ersuchen des Wiener FBI-Büros Hartmans Verhaftung anzuordnen.
Allerdings fragte sie sich, wie vertrauenswürdig die Wiener Polizei war.
Die Frage war keineswegs aus der Luft gegriffen. Der Mann, in dessen Haus sich Hartman in diesem Augenblick aufhielt, war immerhin...
Dann kam ihr eine Idee. »Die Frage hört sich vielleicht etwas komisch an«, sagte sie. »Aber hat dieser Lenz irgendwas mit den Nazis zu tun?«
Heisler drückte seine Zigarette in dem überquellenden Aschenbecher aus und blies Anna eine letzte Rauchwolke in die schmerzenden Augen. »Die Frage ist ganz und gar nicht komisch«, sagte er. »Haben Sie schon mal von seinem Vater gehört - Dr. Gerhard Lenz?«
»Nein. Sollte ich?«
Er zuckte mit den Schultern - ignorante Amerikaner. »War einer von der ganz üblen Sorte. Kollege von Josef Mengele, der im KZ die grauenhaftesten Menschenexperimente durchgeführt hat.«
Daraus ergab sich wie von selbst folgende Vermutung: Hartman, Sohn eines Überlebenden, will Rache an der Generation der Söhne nehmen.
»Aber sein Sohn ist das genaue Gegenteil. Er hat sein Leben der Aufgabe gewidmet, etwas von den Verbrechen des Vaters wieder gutzumachen.«
Sie schaute erst Heisler an und dann aus dem Fenster zu Lenz’ Prachtvilla. Der Sohn eines Nazis ein Kämpfer gegen den Nazismus? Faszinierend. Sie fragte sich, ob auch Hartman das wusste. Vielleicht wusste er über den jungen Lenz nur, dass er
der Sohn von Gerhard Lenz war, der Sohn eines Nazis. Wenn Hartman wirklich der fanatische Rächertyp war, dann wäre es ihm auch egal, wenn Lenz Junior Wasser in Wein verwandeln konnte.
Was bedeutete, dass Jürgen Lenz seine tödliche Injektion von Hartman vielleicht schon bekommen hatte.
Herrgott noch mal, dachte Anna, als Heisler sich die nächste Casablanca anzündete. Und wir sitzen hier rum.
»Frag mich gerade, zu wem der Wagen da gehört«, sagte Heisler plötzlich.
»Welcher?«
»Der da.« Er zeigte auf den roten Peugeot, der gegenüber von Lenz’ Anwesen stand. »Der stand schon da, als wir gekommen sind.«
»Ich dachte, der gehört zu Ihnen«, sagte Anna.
»Sicher nicht. Hat nicht das passende Nummernschild.«
»Vielleicht ein Nachbar oder ein Freund.«
»Könnten vielleicht Ihre amerikanischen Kollegen die Finger im Spiel haben?«, fragte er sichtlich erregt. »Vielleicht haben die ein Auge auf Sie. Wenn dem so ist, blase ich die ganze Geschichte sofort ab.«
Anna war beunruhigt. »Das kann ich mir nicht vorstellen", erwiderte sie unsicher. »Tom Murphy hätte mir sicher gesagt, wenn jemand hergeschickt worden wäre.« Hätte er das wirklich? »Als ich ihm die Geschichte erzählte, kam er mir eher desinteressiert vor.«
Und wenn er ihr doch hinterher spionierte? War das denkbar?
»Wer ist es dann?«, fragte Heisler.
»Wer sind Sie?«, fragte Jürgen Lenz ein zweites Mal. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Sie sind kein Freund von Winston Rockwell.«
»Nicht wirklich«, sagte Ben. »Ich kenne ihn nur beruflich. Ich heiße Ben Hartman. Mein Vater ist Max Hartman.« Wieder achtete er genau auf Lenz’ Reaktion.
Lenz schien für einen Moment zu erstarren, dann entspannten sich seine Gesichtszüge wieder. »Großer Gott«, murmelte er. »Richtig. Jetzt erkenne ich die Ähnlichkeit. Ich erinnere mich an
die Zeitungsberichte. Furchtbar, was Ihrem Bruder zugestoßen ist.«
Ben fühlte sich, als hätte man ihm in die Magengrube geschlagen. »Was wissen Sie darüber?«, fragte er heftig.
Das Funkgerät schaltete sich krächzend ein.
»Wer ist das, Inspektor?«
»Keine Ahnung«, sagte Heisler.
»Keiner von uns, oder?«
»Sicher nicht.«
Heisler nahm ein Nachtsichtfernglas vom Rücksitz und schaute hindurch. Es war inzwischen dunkel geworden, und das unbekannte Auto stand mit abgeschalteten
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