Das Sigma-Protokoll
Vater gekämpft hatte. Nichts kann jemals die Verbrechen des Dritten Reichs vergessen machen, aber ich hatte mich entschieden, mit meinem Leben einen kleinen Beitrag zu leisten.« Lenz’ Rede klang ein wenig zu glatt, zu einstudiert. Als hätte er sie schon tausendmal gehalten. Was sicher auch der Fall war. Aber dennoch wirkte sie aufrichtig. Unter der Schale der gelassenen Selbstsicherheit war Jürgen Lenz unzweifelhaft ein zerrissener Mensch.
»Haben Sie Ihren Vater je wiedergesehen?«
»Ich habe ihn noch dreimal getroffen. Wenn er aus Argentinien zu Besuch in Deutschland war. Er reiste unter einem anderen Namen und hatte sich eine vollständig neue Identität zugelegt. Meine Mutter hat es abgelehnt, ihn zu treffen. Ich habe zwar
mit ihm gesprochen, aber ich fühlte absolut nichts dabei. Er war wie ein Fremder für mich.«
»Ihre Mutter hatte die Verbindung für immer gekappt?«
»Sie hat ihn erst wieder gesehen - wenn man das so sagen kann -, als sie nach Argentinien zu seiner Beerdigung geflogen ist. Ich hatte den Eindruck, dass sie einfach sichergehen wollte, dass er wirklich tot war. Komisch - aber das Land gefiel ihr auf Anhieb. Sie ist später dorthin zurückgekehrt und verbringt jetzt ihren Lebensabend dort.«
Wieder herrschte Stille. Dann sagte Ben mit ruhiger und fester Stimme: »Ich muss zugeben, ich bin beeindruckt, mit welchem Nachdruck und welchen Mitteln Sie eine Zeit zu erforschen helfen, in der Ihr Vater eine derart unrühmliche Rolle gespielt hat. Haben Sie eigentlich im Laufe Ihrer Arbeit jemals von einer Organisation namens Sigma gehört?« Während er den Namen aussprach, behielt er Lenz gespannt im Auge.
Lenz schaute ihn eine Zeit lang an. Es war plötzlich so still, dass Ben seinen eigenen Herzschlag hören konnte.
Dann antwortete Lenz. »Sie stellen mir diese Frage so nebenher, aber könnte es sein, dass das der einzige Grund Ihres Besuchs ist?«, fragte Lenz. »Warum sind Sie hier, Mr. Simon?«
Ben fröstelte. Er stand mit dem Rücken zur Wand und musste sich entscheiden: Sollte er an der falschen Identität festhalten, oder sollte er mit der Wahrheit herausrücken?
Es war an der Zeit, deutlich zu werden. Die Beute aus ihrem Bau zu zerren.
»Welche Rolle spielen Sie in der Organisation Sigma?«
Lenz runzelte die Stirn. »Warum sind Sie hier, Mr. Simon? Warum erschleichen Sie sich den Zutritt zu meinem Haus und tischen mir Lügen auf?« Ein seltsames Lächeln lag um seine Lippen, während er leise weitersprach. »Sie sind von der CIA, Mr. Simon, stimmt’s?«
»Wovon reden Sie überhaupt?«, erwiderte Ben. Er war verwirrt und beunruhigt.
»Wer sind Sie wirklich, Mr. Simon?«, fragte Lenz. Seine Stimme war jetzt kaum noch hörbar.
»Schönes Haus«, sagte Anna. »Wer wohnt da?«
Sie saß auf dem Beifahrersitz eines zivilen Polizeiwagens, der völlig verqualmt war. Hinter dem Steuer des blauen BMW saß Walter Heisler, ein bulliger, kerngesund aussehender Mann Ende dreißig. Heisler war ein ausgesprochen herzlicher Mensch. Er rauchte eine Casablanca nach der anderen.
»Einer unserer prominenteren Mitbürger«, sagte Heisler und zog kräftig an seiner Zigarette. »Jürgen Lenz.«
»Weshalb ist er prominent?«
Sie befanden sich in der Adolfstorgasse, etwa einhundert Meter von der eleganten Villa entfernt. Die meisten der vor dem Anwesen parkenden Autos hatten Nummernschilder mit weißen Ziffern auf schwarzem Untergrund. Das sei der alte aristokratische Stil, erklärte ihr Heisler. Diese Art Nummernschilder kosteten Extragebühren.
Er blies eine Rauchwolke aus. »Lenz und seine Frau sind gesellschaftlich sehr aktiv. Opernball, Sie verstehen. Er leitet seine eigene Stiftung. Ist vor über zwanzig Jahren von Deutschland nach Wien gekommen.«
»Hmm.« Der Zigarettenqualm brannte ihr in den Augen, doch sie beklagte sich nicht. Heisler war ihr nicht unsympathisch. Außerdem gefiel es ihr in dieser rauchgeschwängerten Kiste. Sie fühlte sich wie ein richtiger Cop, wie einer, der dazugehört.
»Wie alt?«
»Siebenundfünfzig, glaub ich.«
»Und prominent?«
»Und wie.«
Es standen noch drei weitere zivile Polizeifahrzeuge in der Straße: eins direkt vor ihnen, die beiden anderen ein paar hundert Meter weiter; sie blockierten die andere Zufahrt zum Haus. Egal, auf welcher Route Hartman das Viertel verlassen wollte, sie hatten ihn in der Falle. Die Beamten waren Spezialisten des Überwachungsteams; sie waren bewaffnet und mit Funksprechgeräten ausgerüstet.
Anna trug keine
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