Das Sigma-Protokoll
Scheinwerfern am Bordstein. Da die nächste Straßenlaterne ein Stück entfernt war, konnte man das Gesicht des Fahrers mit bloßem Auge nicht erkennen.
»Er hält sich eine Zeitung vors Gesicht«, sagte Heisler. »Die Kronenzeitung.«
»Ganz schöne Leistung. Stockdunkel und Zeitung lesen«, sagte Anna und dachte, wir drehen hier Däumchen, und Lenz Junior ist vielleicht schon tot.
»Schätze, für mehr als die Überschriften reicht’s nicht.« Heisler schien Annas Humor zuzusagen.
»Darf ich mal?«
Er gab ihr das Fernglas. Sie sah nur die Rückseite der Zeitung. »Anscheinend will er nicht erkannt werden«, sagte sie. Was, wenn er wirklich vom Wiener FBI-Büro war? »Ist ja auch schon ein Hinweis. Darf ich mal Ihr Handy benutzen?«
»Sicher.« Er gab ihr sein klobiges Ericsson, und sie wählte die Nummer der Wiener US-Botschaft.
»Hallo, Tom«, sagte sie, als Murphy abhob. »Anna Navarro. Nur eine Frage: Haben Sie jemanden nach Hietzing geschickt?«
»Hietzing? Hier in Wien?«
»Ja, es geht um meinen Fall.«
Eine Pause. »Nein, natürlich nicht. Ich hatte keine Anweisungen.«
»Irgendjemand pfuscht mir hier ins Handwerk. Keiner aus
Ihrem Büro würde es wagen, mich auf eigene Faust ohne Ihr Wissen zu überwachen, oder?«
»Das würde ich ihm zumindest nicht raten. Ich halte es für ausgeschlossen, dass einer von meinen Leuten im Moment da draußen ist.«
»Danke.« Sie gab Heisler das Handy zurück. »Merkwürdig.«
»Wer kann das dann sein?«, fragte Heisler.
»Warum, wenn ich fragen darf, haben Sie angenommen, ich sei von der CIA?«
»Ein paar alte Betonköpfe aus dem Verein haben sich auf mich eingeschossen«, sagte Lenz schulterzuckend. »Sagt Ihnen der Name Project Paper Clip etwas?« Sie waren inzwischen zu Wodka übergewechselt. Ilse Lenz war nach ihrem plötzlichen Aufbruch vor über einer Stunde noch nicht wieder erschienen. »Vielleicht nicht dem Namen nach. Aber Sie haben sicher davon gehört, dass kurz nach dem Krieg die amerikanische Regierung - das heißt das Office of Strategic Services (OSS), der Vorläufer der CIA - einige der führenden Wissenschaftler Nazideutschlands in die USA geschmuggelt hat. Die Amerikaner frisierten die Papiere der Deutschen und haben die nötigen Änderungen der Lebensläufe vorgenommen. Zum Beispiel vertuscht, dass diese Leute Massenmörder waren. Der Grund war einfach: Sofort nach dem Krieg wandte sich Amerika einem neuen Krieg zu - dem Kalten Krieg. Plötzlich zählte nur noch der Kampf gegen die Russen. Der vierjährige Kampf Amerikas gegen die Nazis hatte zahllose Tote gekostet, und plötzlich waren die Nazis Freunde - wenn sie im Kampf gegen die Kommunisten von Nutzen sein konnten. Zum Beispiel bei der Entwicklung von Waffen. Diese Wissenschaftler waren brillante Köpfe. Sie waren die Gehirne hinter den gewaltigen wissenschaftlichen Errungenschaften des Dritten Reiches gewesen.«
»Und sie waren Kriegsverbrecher.«
»Exakt. Manche von ihnen waren verantwortlich für die Folterung und den Tod von Abertausenden von KZ-Insassen. Manche, wie Wernher von Braun und Dr. Hubertus Strughold, hatten
Kriegswaffen für die Nazis entwickelt. Arthur Rudolph, der an der Ermordung von zwanzigtausend Unschuldigen in Nordhausen beteiligt gewesen war, wurden die höchsten zivilen Ehrungen der NASA zuteil.«
Es dämmerte. Lenz stand auf und machte die Lampen im Wohnzimmer an. »Die Amerikaner haben den Mann ins Land geholt, der für die Todeslager in Polen verantwortlich war. Einer der Nazi-Wissenschaftler, dem sie Asyl gewährten, war der, der in Dachau die Kälteexperimente geleitet hatte. Er wurde ein hoch angesehener Professor für Weltraummedizin auf der Randolph Air Force Base in San Antonio. Die wenigen noch lebenden der damals verantwortlichen CIA-Leute sind natürlich alles andere als begeistert von meinen Bemühungen, Licht in dieses dunkle Kapitel zu bringen.«
» Ihren Bemühungen?«
»Ja, und denen meiner Stiftung. Kein geringer Teil der Gelder geht an Projekte mit dieser Zielsetzung.«
»Inwiefern stellt die CIA eine Bedrohung dar?«
»Die CIA ist zwar erst ein paar Jahre nach Kriegsende gegründet worden. Aber sie hat natürlich die Dienstaufsicht über diese OSS-Agenten geerbt. An bestimmte Vorkommnisse sollte man nach Meinung einiger altgedienter CIA-Leute besser nicht rühren. Und manche dieser Oldtimer werden sicher bis zum Äußersten gehen, um das zu gewährleisten.«
»Tut mir Leid, aber ich will das einfach nicht glauben. Die CIA schickt
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