Das Sigma-Protokoll
das Nahtmaterial vor, streifte sich Latexhandschuhe über und setzte ihm rund um die Wunde ein paar Betäubungsspritzen. Mit Schere und Pinzette entfernte er Hautgewebe und säuberte die Wunde.
Trevor war übel. Er spürte keinen richtigen Schmerz, eher ein heftiges Ziehen, und biss die Zähne zusammen. »Hauptsache, die Wunde öffnet sich nicht gleich wieder, wenn ich zur Tür raus bin«, sagte er.
»Sie sollten es eine Zeit lang etwas ruhiger angehen lassen.«
»Mein Fleisch heilt schnell.«
»Richtig«, sagte Schreiber. »Hatte ich fast vergessen.«
»Zeit ist der einzige Luxus, den ich nicht habe«, sagte Trevor. »Nähen Sie die Wunde fest zu.«
»Ich kann einen dickeren Faden nehmen. Dann bleibt allerdings eine ziemlich hässliche Narbe.«
»Das ist mir egal.«
»Na gut«, sagte der Arzt und drehte sich zu dem Rollwagen mit den medizinischen Utensilien um.
Als er fertig war, fragte er: »Soll ich Ihnen für die Schmerzen etwas Voltaren mitgeben? Oder geht’s so?«
»Etwas Ibuprofen reicht«, sagte Trevor.
»Wie Sie wollen.«
Als Trevor sich erhob, zuckte er kurz zusammen. »Also dann. Vielen Dank für Ihre Hilfe.« Er gab Dr. Schreiber ein paar Tausendschillingscheine.
Der Arzt schaute ihn an. »Stets zu Diensten«, sagte er sarkastisch.
Anna spritzte sich heißes Wasser ins Gesicht. Dreißigmal hintereinander. So hatte sie es von ihrer Mutter gelernt. Das war die einzige Schönheitspflege gewesen, die sich ihre Mutter je gegönnt hatte. Hält die Haut vital und frisch, hatte sie immer gesagt.
Als das Telefon klingelte, stellte sie das Wasser ab, schnappte sich ein Handtuch und lief zum Bett.
»Hallo Anna. Robert Polozzi hier. Tschuldige, dass ich so spät noch anrufe.«
Robert Polozzi von der ICU in Washington.
»Schon gut. Was gibt’s, Robert?«
»Ich hab das mit dem Patent gecheckt.«
Was hatte er gecheckt? Sie trocknete sich das Gesicht ab.
Er sagte: »Das Nervengift...«
»Ach ja, richtig. Tschuldigung, hatte ich ganz vergessen. Und?«
»Am sechzehnten Mai diesen Jahres wurde ein Patent für exakt diese synthetische Verbindung beantragt. Von einer kleinen Biotech-Firma aus Philadelphia namens Vortex. Ich zitiere: >... ein synthetisches Gift, das in seiner Wirkungsweise dem Gift der Seeschlange entspricht und für die Forschung empfohlen wird.< Und dann kommt noch was Fachchinesisches mit >Lokalisieren von Ionenflüssen< und >Markieren von Chemorezeptoren<.« Er zögerte kurz, sprach dann aber weiter. »Ich hab bei der Firma angerufen. Natürlich unter einem Vorwand.«
Ein bisschen unorthodox, aber das war Anna egal. »Und?«
»Na ja, nichts Genaues. Die Produktion ist ziemlich aufwändig, und sie brauchen nur winzige Mengen davon, weil sie noch in der Experimentierphase sind. Deshalb haben sie immer nur ganz wenig von dem Zeug vorrätig, und das ist immer unter Kontrolle. Ich hab den Typ - das war der wissenschaftliche Leiter des Ladens - gefragt, ob man das Zeug auch als Gift benutzen könne, und er sagt ja. Ist absolut tödlich. Wie das Gift von der Seeschlange in der freien Wildbahn. Schon die kleinste Menge würde zu sofortigem Herzversagen führen.«
Anna wurde immer aufgeregter. »Was hat er mit >unter Kontrolle< gemeint - dass es unter Verschluss ist?«
»Genau.«
»Und der Kerl war vertrauenswürdig?«
»Man weiß ja nie, aber ich glaube schon.«
»Okay, danke. Sehr gute Arbeit. Können Sie noch mal anrufen und rausfinden, ob irgendwas von dem Zeug abhanden gekommen ist?«
»Hab ich schon«, sagte Polozzi stolz. »Die Antwort lautet nein.«
Sie war enttäuscht. »Ich würde gern so viel wie möglich über diese Firma wissen. Besitzer, Geschäftsführer, Angestellte etc. Könnten Sie sich darum kümmern?«
»Wird gemacht.«
Sie legte auf und blieb grübelnd auf der Bettkante sitzen. Gut möglich, dass die Spur zur Aufklärung der Verschwörung - oder aber ins Nichts führte.
Die gesamte Untersuchung erwies sich als zunehmend frustrierend. Und die Wiener Polizei hatte von dem Killer auch noch keine Spur. Der Peugeot war erst kürzlich als gestohlen gemeldet worden. Überraschung, Überraschung. Noch eine Sackgasse.
Dieser Hartman verwirrte sie. Gegen ihren Willen fand sie ihn ganz sympathisch, ja sogar anziehend. Er war einer von dieser ganz speziellen Sorte, die glaubt, dass sie mit allem davonkommt: der strahlende Jüngling, unverschämt attraktiv und unverschämt reich, selbstbewusst bis zur Arroganz. Er war Brad, der Footballspieler, der sie vergewaltigt
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