Das Sigma-Protokoll
hatte. Die Sorte, für die immer schon der rote Teppich ausgerollt ist. Eine meist recht drastisch formulierende
Collegefreundin hatte sich so ausgedrückt: »Das sind die, die glauben, dass sie geruchlos scheißen.«
Aber war er ein Mörder? Unwahrscheinlich. Sie glaubte seine Version über das, was in Rossignols Haus in Zürich passiert war. Das passte zu den Mustern der Fingerabdrücke und zu ihrer Einschätzung von ihm. Aber er hatte eine Waffe bei sich gehabt und wollte nicht sagen, warum. Andererseits hatte die Durchsuchung seines Wagens nichts ergeben: keine Spritze, kein Gift, nichts.
Schwer zu sagen, ob er Teil der Verschwörung war. Er hält den Tod seines Bruders, damals vor vier Jahren, für Mord. Vielleicht war dieser Mord der Katalysator für die aktuellen Morde. Aber warum so viele? Und warum so kurz hintereinander?
Eins war sicher: Benjamin Hartman wusste mehr, als er sagte. Aber sie hatte weder die Befugnis noch die Handhabe, um ihn festzusetzen. Es war zum Verzweifeln. Sie fragte sich, ob ihr Verlangen, ihn zu schnappen - okay, okay: ihre Besessenheit - mit dieser Reicher-Bengel-Aversion, mit den alten Wunden, mit Brad zu tun hatte.
Schließlich nahm sie ihr Adressbuch vom Nachttisch, schlug eine Nummer nach und wählte.
Es klingelte ein paar Mal, dann meldete sich eine raue Männerstimme: »Donahue.« Donahue war im Justizministerium der Papst in Sachen Geldwäsche. Bevor sie in die Schweiz geflogen war, hatte sie ihn in groben Umrissen eingeweiht. Er kannte keine Zusammenhänge, nur den Teil mit den Geldüberweisungen. Donahue machte es nichts aus, dass man ihn über den Kern der Untersuchung im Dunkeln ließ. Er schien es als Herausforderung zu betrachten.
»Ich bin’s, Anna Navarro.«
»Hi Anna. Wie läuft’s da drüben?«
Sie schaltete auf die Kumpeltour um. Was ihr leicht fiel, da sie den Umgangston von ihrem Vater und den Nachbarn zu Hause gewohnt war.
»Alles paletti. Und bei dir? Schon was über die Kohle rausgekriegt?«
»Null. Hauen uns die Schädel an ’ner Backsteinwand blutig. Sieht so aus, als ob man die Konten der Toten von unseren ganz speziellen Inselparadiesen aus verwaltet hat. Cayman Islands, British
Virgin Islands, Curaçao. Und da steht auch die Backsteinwand.«
»Was passiert, wenn du diesen Offshore-Banken ein formelles Ersuchen der Regierung unter die Nase hältst?«
Donahue lachte kurz, laut und höhnisch. »Die zeigen uns den Stinkefinger. Wenn wir mit dem MLAT-Wisch wedeln und um Kontounterlagen bitten, nehmen Sie ihn dankend in Empfang. >Könnte allerdings ein paar Jährchen dauern, bis wir dazu kommen<, heißt es dann.« MLAT stand für Mutual Legal Assistance Treaty und war ein Rechtshilfeabkommen, das zwischen den USA und vielen Steuerparadiesen bestand. »British Virgins und Caymans sind die Schlimmsten. Die Antwort lautet immer, dass unter zwei, drei Jahren gar nichts geht.«
»O Mann.« »Und selbst wenn wir einen Blick reinwerfen dürfen, in ihre heiligen Hallen, nutzt uns das auch nicht viel. Weil nämlich jede Überweisung, und da wette ich ein Monatsgehalt drauf, wieder von einer anderen Offshore-Bank kommt. Isle of Man, Bahamas, Bermuda, Luxemburg, San Marino, Anguilla. Wahrscheinlich läuft das über eine ganze Serie von solchen Banken oder Briefkastenfirmen. Schnipp ein paar Mal mit dem Finger, und deine Kohle jagt über ein Dutzend Konten auf der ganzen Welt.«
»Was dagegen, wenn ich dich was frage?«
»Schieß los!«
»Wie zum Teufel findet ihr dann überhaupt je was raus?«
»Rausfinden tun wir jede Menge«, sagte er etwas zurückhaltend. »Nur dauert das jedes Mal ein paar Jahre.«
»Klasse«, sagte sie. »Vielen Dank auch.«
Das Sicherheitsbüro befand sich in der Bundespolizeidirektion Wien an der Roßauer Lände. In einem kleinen Raum im vierten Stock saß ein junger Mann mit Kopfhörern vor einem Computer. Ab und zu drückte er eine Zigarette in einem großen goldenen Aschenbecher aus. An der Wand über dem Schreibtisch hing ein Schild mit der Aufschrift >Bitte nicht rauchen<.
In einem kleinen Kasten oben links auf dem Schirm stand die Telefonnummer, die der Mann überprüfte. Darunter Datum, Uhrzeit, Dauer des Anrufs auf die Zehntelsekunde und die angerufene
Nummer. In einem anderen Kasten waren sämtliche Nummern aufgeführt, die von dem Apparat angerufen worden waren. Man bewegte den Cursor auf die gewünschte Nummer, doppelklickte, und das digital aufgezeichnete Gespräch wurde über Kopfhörer oder Lautsprecher
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