Das Sigma-Protokoll
darüber nachdachte, desto wütender wurde er.
Liesl war ein liebenswertes Mädchen gewesen - wenn er in der Vergangenheitsform an sie dachte, fühlte er immer noch einen Kloß im Hals. Aber es war nicht richtig von ihr gewesen, ihn in diese Geschichte hineinzuziehen. Hatte sie seine Loyalität zur Familie etwa nicht missbraucht? Er stellte sich vor, wie er sich mit seiner Kusine stritt. Es war einfach nicht richtig von ihr gewesen, dass sie ihn da reingezogen hatte. Er hatte nie Teil ihres Kreuzzugs sein wollen. War ihr überhaupt bewusst gewesen, in welche Lage sie ihn damit gebracht hatte?
Ihm fielen wieder ihre Worte ein: Wir brauchen deine Hilfe. Du bist der einzige Mensch, der uns noch helfen kann. Deschner erinnerte sich an ihre Augen. Das klare, leuchtende Blau hatte ihn immer an einen tiefen Bergsee erinnert. Es waren Augen, deren Rechtschaffenheit von jedem Menschen die gleiche Rechtschaffenheit erwartete.
Deschners Schläfen pochten. Die junge Frau hatte einfach zu
viel verlangt. Wahrscheinlich von allen Menschen, ganz sicher von ihm.
Sie hatte sich eine Organisation zum Feind gemacht, die mit einer Gleichgültigkeit Menschen ermordete, wie Politessen Strafzettel verteilten. Liesl war tot, und es war durchaus möglich, dass sie ihn mit in den Abgrund riss.
Sie würden herausfinden, dass die Kreditkarte benutzt worden war. Und dann würden sie herausfinden, dass man ihn davon unterrichtet und er die Nachricht nicht weitergeleitet hatte. Einen Dr. Matthias Deschner würde es dann nicht mehr lange geben. Er dachte an seine Tochter Alma, die in zwei Monaten heiraten wollte. Alma hatte ihm erzählt, wie sehr sie sich darauf freue, von ihrem Vater zum Altar geführt zu werden. Er schluckte schwer und sah Alma, die allein den Gang hinunterschritt. Das würde er nicht zulassen. Das wäre nicht nur rücksichtslos, das wäre selbstsüchtig.
Das Pochen in seinem Kopf hielt unvermindert an. Er nahm ein Aspirin aus der Schreibtischschublade und schluckte es trocken hinunter.
Dann schaute er auf die Uhr.
Er würde den Anruf melden. Aber nicht sofort. Er würde ein paar Stunden verstreichen lassen und erst dann anrufen.
Die Verzögerung könnte er leicht erklären, und sie wären sicher dankbar für seine Kooperationsbereitschaft. Ganz sicher.
Vielleicht konnte dieser Hartman mit dem kleinen Vorsprung etwas anfangen. Zumindest hatte er ein paar Stunden länger zu leben. Das bin ich ihm schuldig, dachte Deschner, aber nicht mehr.
32. KAPITEL
Paris
Das zwanzigste Arrondissement war der östlichste und heruntergekommenste Stadtteil von Paris. Er erstreckte sich über die Hänge eines Hügels an der Périphérique genannten Ringautobahn, die gleichzeitig die Stadtgrenze markierte. Im 18. Jahrhundert befand sich hier die Winzergemeinde Charonne. Im Laufe der Jahre waren die Weinhänge kleinen Häusern gewichen, die ihrerseits hässlichen Betonbauten Platz machen mussten. Ein Straßenname wie Rue des Vignoles wirkte in diesem verrotteten Stadtviertel auf lächerliche Weise deplatziert.
Die Reise nach Paris hatte Ben einige Nerven gekostet. In jeden zufälligen Blick fantasierte er eine Bedeutung hinein, und hinter der Langsamkeit der Zöllner vermutete er einen Trick, der unweigerlich mit ihrer Verhaftung enden musste. Anna hatte mehr Erfahrung mit der Sturheit von Bürokratenschädeln, die eine effiziente Umsetzung von Sicherheitsrichtlinien eher behinderten denn beförderten. Sie war nicht im Mindesten überrascht, als sie die Kontrollen problemlos hinter sich brachten. Dass die Lage sich in ein paar Tagen völlig anders darstellen würde, war ihr allerdings genauso klar.
Erst in dem überfüllten Shuttle-Zug vom Flughafen de Gaulle in die Innenstadt löste sich die Spannung allmählich. Jetzt verließen sie gerade die Metrostation Gambetta und gingen an dem großen Gerichtsgebäude vorbei durch die Rue Vitruve in Richtung Rue des Orteaux. Dort bogen sie links ab. Links und rechts von der Rue des Vignoles zweigten schmale Straßen ab, die den Wegen folgten, die früher zwischen den Weingärten verlaufen waren.
Das südlich von Belleville gelegene Charonne war eines der
unpariserischsten Stadtviertel von ganz Paris. Man traf hier mehr Afrikaner, Spanier und Menschen aus der Karibik als Franzosen. Doch schon lange bevor die Einwandererwellen in diesen Teil der Stadt geschwappt waren, hatte das Pariser Bürgertum geringschätzig auf das Viertel hinabgeblickt. Es war ein Sammelbecken für Arme und Kriminelle
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