Das Sigma-Protokoll
aufzuspüren«, sagte Anna mit zunehmend lauter werdender Stimme. »Nur deshalb hat Bartlett mir diesen Job gegeben.« Sie schlug mit der Faust auf das Armaturenbrett.
»Bartlett hat Sie als Spürhund eingesetzt und dann die Aufgespürten umbringen lassen. Bartlett arbeitet für Sigma.« Langsam nahm das Bild Gestalt an, und es tat ihm weh, Anna so zusetzen zu müssen.
»Genau wie ich!« Anna schrie jetzt fast. »Genau wie ich. O mein Gott.«
»Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte Ben. »Man hat Sie benutzt.
Sie waren ein Bauer auf ihrem Schachbrett. Und als Sie unbequem wurden, wollte Bartlett Sie von dem Fall abziehen. Sie hatten ihnen Rossignol geliefert und wurden jetzt nicht mehr gebraucht.«
»O mein Gott«, stöhnte Anna.
»Es ist natürlich nur eine Vermutung«, sagte Ben, obwohl er sich ziemlich sicher war.
»Eine Vermutung, die verdammt logisch klingt.«
Ben sagte nichts darauf. Das Verlangen nach einer Wirklichkeit, die den Regeln der Logik folgte, mutete in ihrer Lage ziemlich exotisch an. Chardins Worte gingen ihm durch den Kopf. Ihre Bedeutung war so schrecklich wie der Anblick von Chardins Gesicht. Es war ein kompliziertes Räderwerk... Organe von Sigma... unsichtbar... Jede Einzelheit war lange vor der Umsetzung von uns entworfen... Niemand ist je auf den Gedanken gekommen, dass der Westen von einem geheimen Konsortium beherrscht wurde... unvorstellbar... dann wäre ja über die Hälfte der Welt nur die Filiale eines einzigen Megakonzerns. Sigma.
Wieder schwiegen beide.
Nach zehn Minuten meinte Ben: »Wir müssen uns eine genaue Route zurechtlegen.«
Anna nahm sich noch einmal den Artikel in der Herald Tribune vor. »›Der Verdächtige soll bei seinen Reisen die Namen Robert Simon und John Freedman benutzt haben.< Die beiden Namen können wir also schon mal vergessen.«
Moment mal!, dachte Ben. Hatte Liesl ihm nicht erzählt, dass Peter seine Kreditkartenkonten über ihren absolut vertrauenswürdigen Cousin zweiten Grades abgewickelt hatte? »Deschner«, sagte Ben. »Sie müssen irgendwie an ihn rangekommen sein.« Dann, nach einer kurzen Pause. »Ich frage mich, warum in dem Artikel die Decknamen erwähnt werden, aber nicht mein richtiger Name.«
»Aus deren Sicht ist es schlauer so«, sagte Anna. »Sie wussten, dass Sie nicht unter Ihrem richtigen Namen unterwegs sind. Ihr richtiger Name hätte die Sache nur komplizierter gemacht. Irgendeine Highschool-Lehrerin von Ihnen hätte beteuert, dass der liebe Benny zu so was nie fähig wäre. Außerdem
hätten die Schweizer Untersuchungsergebnisse der Schmauchspuren Sie entlastet. Bei der Schweizer Polizei laufen Sie unter Benjamin Hartman. Eine Fahndung hält man so einfach wie möglich.«
In der Nähe der Stadt Croisilles hielten sie an einem Motel, einem dieser langen eingeschossigen Betonkästen, die überall auf der Welt gleich hässlich sind.
»Nur eine Nacht«, sagte Ben und zählte das Geld auf den Tresen.
»Ihr Pässe bitte«, sagte der junge Angestellte mit reglosem Gesicht.
»Die sind im Gepäck«, sagte Ben freundlich lächelnd. »Ich bring Sie Ihnen dann vorbei.«
»Nur eine Nacht?«
»Na ja, das ist doch schon was«, sagte Ben und warf Anna einen übertrieben lüsternen Blick zu. »Wir sind auf Hochzeitsreise in Frankreich.«
Anna legte ihm den Kopf an die Schulter. »Frankreich ist ein so wunderschönes Land«, sagte sie. »Und so kultiviert. Ich bin ganz hingerissen.«
»Auf Hochzeitsreise, so so«, sagte der Angestellte. Zum ersten Mal erschien ein Lächeln auf seinen Lippen.
»Entschuldigung, aber wir haben es ziemlich eilig«, sagte Ben. »Wir sind stundenlang gefahren und brauchen dringend ein kleines Päuschen.« Er zwinkerte dem jungen Burschen zu.
Der Angestellte gab ihm den Schlüssel, der an einer golfballgroßen Gummikugel hing. »Das Zimmer ganz am Ende des Gangs. Nummer 125. Wenn Sie irgendwas brauchen, Anruf genügt.«
Das Zimmer war spartanisch eingerichtet. Der blassgrüne, gesprenkelte Teppichboden roch leicht angeschimmelt. Selbst das aufdringliche Kirscharoma aus dem Duftspender kam nicht dagegen an.
Sobald die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, verteilten sie den Inhalt von Oscars ›I-love-Paris‹-Tüte sowie die anderen Einkäufe des Tages auf dem Bett. Anna nahm ihren neuen EU-Pass unter die Lupe. Es war zwar ihr Gesicht auf dem Passfoto, aber es war digital verändert worden. Um sich an den noch
fremden Klang zu gewöhnen, sagte Anna mehrmals laut ihren neuen Namen.
»Ist mir ein
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