Das Sigma-Protokoll
Dame?
Er folgte dem Priester in das Zimmer. Es war ein kleines Wohnzimmer mit Bücherregalen an den Wänden und Orientteppichen auf dem Boden. Über die Tasten eines Steinway-Flügels beugte sich eine winzige vogelartige Frau. Scheinbar hatte sie nicht bemerkt, dass jemand das Zimmer betreten hatte. Ben und der Priester setzten sich auf ein kratziges, unbequemes Sofa und warteten.
Als sie das Stück beendet hatte, schwebten ihre Finger sekundenlang regungslos über den Tasten, bevor sie langsam in ihren Schoß sanken. Die Attitüden einer Konzertpianistin. Langsam drehte sie sich um. Ihr Gesicht sah aus wie eine Dörrpflaume; die Augen waren eingefallen, die Haut an ihrem Hals verschrumpelt. Sie war mindestens neunzig.
Ben klatschte ein paar Mal.
»Wer ist das?«, fragte sie mit heiserer, zittriger Stimme.
»Mutter, das ist Mr. Johnson«, sagte der Priester. »Mr. Johnson - meine Stiefmutter.«
Ben stand auf und schüttelte ihr vorsichtig die zerbrechliche Hand.
»Und ich bin Francisco«, sagte der Priester.
»Francisco, bitte sei so gut«, sagte die alte Dame und hob leicht den linken Arm.
Francisco stützte seine Stiefmutter vorsichtig und führte sie zu einem Sessel. »Sie kommen also aus Österreich?«
»Ja, ich bin gerade erst in Wien gewesen.«
»Weshalb haben Sie die weite Reise gemacht?«
Ben wollte gerade antworten, als sie ängstlich fragte: »Hat etwa die Firma Sie geschickt?«
Die Firma? Meinte sie Sigma? Wenn ja, musste er sie unbedingt zum Reden bringen.
»Frau Lenz, ich muss Ihnen ein Geständnis machen. Ich war leider gezwungen, mir mit einer Notlüge Zutritt zu Ihrem Haus zu verschaffen.«
Franciscos Kopf fuhr herum. Wütend schaute er ihn an.
»Jürgen Lenz hat mich gebeten, Sie aufzusuchen«, sagte Ben zu der alten Dame. Francisco würdigte er keines Blickes. Er würde von Österreich erzählen, würde den Eindruck erwecken, dass er Jürgen Lenz’ Vertrauen besaß. Er würde improvisieren müssen.
Inzwischen hatte er ja Übung darin. »Er bat mich, Ihnen auszurichten, dass Sie außerordentlich vorsichtig sein müssten. Möglicherweise ist Ihr Leben in Gefahr.«
»Ich bin nicht Frau Lenz«, sagte sie in hochmütigem Tonfall. »Schon seit über dreißig Jahren nicht mehr. Ich bin Senora Acosta.«
»Ich bitte um Verzeihung, Senora.«
»Warum schickt Lenz Sie her?« Ihre Stimme klang jetzt nicht mehr arrogant, sondern ängstlich. »Was will er?«
»Senora Acosta«, begann Ben. »Man hat mich gebeten...«
»Warum sind Sie hier?« Die zittrige Stimme wurde jetzt lauter. »Warum machen Sie den weiten Weg von Semmering nach Buenos Aires? Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen. Wir haben die Vereinbarung eingehalten. Lassen Sie uns in Frieden!«
»Mutter, nicht!«, rief der Priester.
Welche Vereinbarung? Was meinte sie? Etwas, das auch Peter herausgefunden hatte?
»Señor Acosta, Ihr Sohn hat mich...«
»Mein Sohn?« Ihre Stimme war nur noch ein Keuchen.
»Ja, Ihr Sohn.«
»In Wien?«
»Natürlich. Ihr Sohn Jürgen aus Wien.«
Der Priester stand auf. »Wer sind Sie?«, fragte er.
»Francisco ist mein Stiefsohn«, sagte die alte Dame. »Aus meiner zweiten Ehe. Ich selbst hatte nie Kinder.« Ihr Gesicht war jetzt verzerrt vor Angst. » Ich habe keinen Sohn. «
»Sie Lügner!« Franciscos Stimme bebte vor Zorn. »Erst geben Sie sich als Nachlassanwalt aus, und jetzt tischen Sie uns schon wieder eine Lüge auf!«
Ben suchte vergeblich nach einer rettenden Ausrede.
»Wer hat Sie geschickt?«, schrie Francisco ihn an.
»Er gehört nicht zur Firma«, murmelte seine Stiefmutter.
»Dieser Jürgen Lenz aus Wien«, sagte Ben, »er behauptet, Ihr Sohn zu sein. Wenn das nicht stimmt, wer ist er dann?«
Francisco drehte sich zu seiner Stiefmutter um, die schon den Mund aufmachte, um zu antworten. »Sag nichts!«, rief er streng. »Kein Wort!«
»Tut mir Leid, aber darüber möchte ich nicht sprechen«, sagte die alte Dame zu Ben und wandte sich dann an ihren Stiefsohn. »Was soll die ganze Fragerei? Weshalb hast du ihn überhaupt hierher gebracht?«
»Er ist ein Betrüger!«, schrie Francisco. »Wenn Wien einen Boten schicken würde, dann würden sie vorher Bescheid sagen.« Eine Hand verschwand unter seiner Robe und tauchte mit der Pistole wieder auf. Francisco zielte auf Bens Stirn.
»Was sind Sie eigentlich für ein Priester?«, fragte Ben mit sanfter Stimme. »Ein Mann Gottes, der einen Mitmenschen mit der Waffe bedroht.«
»Ich bin ein Mann Gottes, der seine Familie
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