Das Sigma-Protokoll
als die Menschen um sie herum.«
»Ich hab’s Ihnen schon gesagt. Man hat mir die Pistole untergeschoben. Ich habe nie damit geschossen.« Ben kochte innerlich, hielt sich aber, so gut es ging, im Zaum. Wenn er den Kommissar provozierte, würde er seine Lage nur verschlimmern.
»Aber Sie haben doch selbst zugegeben, am Tod des Mannes Schuld zu sein. Sie haben ihm den Wandleuchter über den Schädel geschlagen. Gehört das zu Ihren normalen Verhaltensweisen?«
»Das waren ja wohl kaum normale Umstände.«
»Wenn ich mich mit Freunden von Ihnen unterhalten könnte, Mr. Hartman, was würden die mir über Sie erzählen. Dass Sie jähzornig sind?« Er schaute Ben seltsam nachdenklich an. »Dass Sie zu Gewalttätigkeit neigen?«
»Sie würden Ihnen sagen, dass ich so gesetzestreu bin, wie man nur sein kann«, erwiderte Ben. »Worauf wollen Sie hinaus?« Ben schaute hinunter auf die Hände, die Cavanaugh den eisernen Leuchter über den Schädel geschlagen hatten. War er doch gewalttätig? Die Unterstellungen des Kommissars waren absurd. Er hatte in Notwehr gehandelt. Plötzlich musste er an einen schon Jahre zurückliegenden Vorfall denken.
Sogar heute noch sah er Darnells Gesicht vor sich. Darnell war einer seiner Fünftklässler in East New York gewesen, ein anständiger Junge, ein intelligenter und wissbegieriger Einserschüler, der Beste in seiner Klasse. Dann war irgendwas passiert. Seine Noten wurden schlechter, und schließlich machte er überhaupt keine Hausaufgaben mehr. Obwohl er sich nie auch nur auf Rangeleien mit anderen Jungen einließ, hatte er jetzt hin und wieder blaue Flecken im Gesicht. Eines Tages nach der Schule stellte Ben ihn zur Rede. Darnell hatte Angst, er konnte ihm nicht mal in die Augen schauen. Schließlich erzählte er, dass Orlando, der neue Freund seiner Mutter, nicht wollte, dass er seine Zeit mit Hausaufgaben verplemperte. Er müsste jetzt mithelfen, Geld zu verdienen.
Auf Bens Frage, auf welche Art er Geld verdiene, wollte der Junge nichts sagen. Ben rief Darnells Mutter Joyce Stuart an, die verängstigt und ausweichend reagierte. Sie wollte nicht in die Schule kommen und weigerte sich, überhaupt darüber zu sprechen oder zuzugeben, dass irgendetwas nicht in Ordnung sei. Ein paar Tage später suchte er sich die Adresse heraus und ging hin.
Darnell wohnte im ersten Stock eines heruntergekommenen Gebäudes, dessen Treppenhaus mit Graffiti geschmückt war. Die Klingel funktionierte nicht. Dafür war die Haustür nicht abgeschlossen, sodass Ben in den ersten Stock hinaufstieg und an die Tür von 2B klopfte. Es dauerte ziemlich lange, bis Darnells Mutter ihm öffnete. Sie war offensichtlich geschlagen worden. Sie hatte blaue Flecken im Gesicht, die Lippen waren geschwollen. Er stellte sich vor und fragte, ob er hereinkommen dürfe. Nach kurzem Zögern führte sie ihn in die kleine Küche. Die beige Plastikbeschichtung der Küchentheke war völlig zerkratzt, die gelben Baumwollvorhänge flatterten im Wind.
Ben hörte Geschrei aus einem hinteren Zimmer, dann kam Orlando in die Küche. »Wer zum Teufel sind Sie?« Er war ein Kleiderschrank in rotem Muscle-Shirt und weiten Jeans. Ben erkannte sofort den Körperbau des Knackis. Der Oberkörper war so überdimensioniert, dass die Brustmuskeln wie dicke Schläuche und die Schultern wie gepanzert aussahen.
»Das ist Darnells Lehrer«, sagte Joyce. Wegen der geschwollenen Lippen hörte es sich an, als presste sie sich ein Kissen vor den Mund.
»Sind Sie Darnells Vormund?«, fragte Ben.
»Man könnte sagen, dass ich jetzt sein Lehrer bin«, erwiderte Orlando. »Außer dass er das Zeug, das ich ihm beibringe, auch brauchen kann. Im Gegensatz zu Ihrem Scheiß.«
Darnell trottete in die Küche. Die Angst in seinem Gesicht ließ ihn jünger als zehn aussehen. »Verschwinde«, sagte sein Mutter leise.
»Den Scheiß, den Sie ihm eintrichtern wollen, braucht Darnell nicht. Was er lernen muss ist, wie man Crack verhökert.« Orlando grinste ihn mit goldenen Schneidezähnen an.
Ben war wie vom Donner gerührt. »Er geht in die fünfte Klasse. Er ist zehn Jahre alt.«
»Genau. Nicht strafmündig. Die Bullen können ihm nichts anhaben.« Er lachte. »Ich hab ihm sogar die Wahl gelassen: entweder du verhökerst Crack oder deinen Arsch.«
Die gleichgültige Brutalität, die in diesen Worten lag, machte Ben krank. Dennoch zwang er sich zur Besonnenheit. »Darnell hat mehr Potenzial als jeder andere in seiner Klasse. Diese Chance sind Sie ihm
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