Das Sigma-Protokoll
Jahren in der Schweiz. Weil Sie sich um den Rücktransport ihres toten Bruders kümmern wollten. Stimmt das?«
Ben antwortet nicht sofort. Urplötzlich wurde er wieder von den alten Erinnerungen übermannt. Der Anruf mitten in der Nacht. Immer ein schlechtes Zeichen. Er war in seiner schmuddeligen Wohnung in East New York. Neben ihm schlief Karen, eine Lehrerkollegin. Er drehte sich auf die andere Seite, um den Anruf entgegenzunehmen, der sein Leben verändern sollte.
Ein paar Tage vorher war Peter allein mit einem kleinen gemieteten Flugzeug unterwegs gewesen und in eine Schlucht in der Nähe des Vierwaldstätter Sees gestürzt. In den Mietunterlagen war unter der Rubrik ›Nächster Verwandter‹ Bens Name aufgeführt. Die Identifizierung hatte einige Zeit gedauert. Erst die Untersuchung des Gebisses hatte Gewissheit gebracht. Für die Schweizer Behörden war es ein Unfall gewesen. Ben flog nach
Luzern und organisierte die Überführung der Leiche in die USA. Das heißt, seiner sterblichen Überreste, eben dessen, was nach der Explosion des Flugzeugs von seinem Bruder übrig geblieben war: Es hatte in einen kleinen Pappkarton gepasst, der nicht größer als eine Tortenschachtel gewesen war.
Während des gesamten Rückflugs hatte er nicht weinen können. Erst später, nachdem sich die Erstarrung gelöst hatte. Sein Vater war unter Tränen zusammengebrochen, und seine Mutter, die wegen ihrer Krebserkrankung schon ans Bett gefesselt war, hatte bis zur völligen Erschöpfung geschrien.
»Ja«, sagte Ben leise. »Das war das letzte Mal.«
»Eine bemerkenswerte Tatsache. Wenn Sie unser Land besuchen, scheint der Tod nicht weit zu sein.«
»Was soll das jetzt wieder?«
»Mr. Hartman«, sagte Schmid in nun etwas sachlicherem Tonfall. »Glauben Sie, dass zwischen dem Tod Ihres Bruders und dem Vorfall heute ein Zusammenhang besteht?«
Im Hauptquartier der Schweizer Bundespolizei in Bern saß eine plumpe, etwa vierzigjährige Frau in ihrem Büro und schaute durch eine dicke schwarze Hornbrille verdutzt auf die Textzeile, die auf ihrem Monitor erschien. Sie erinnerte sich an die Instruktionen, die man ihr vor langer Zeit für einen solchen Fall gegeben hatte und notierte den Namen und die folgende Zahlenkolonne. Dann stand sie auf und klopfte an die Glastür, die ins Büro ihres direkten Vorgesetzten führte.
»Entschuldigung, aber gerade wurde ein Name von der RIPOL-Fahndungsliste aktiviert,« sagte sie. RIPOL war die Abkürzung für Recherche Informations Policier, der elektronischen Datenbank der Schweizer Polizei, auf die die Polizeibehörden des Bundes, der Kantone und der Kommunen Zugriff hatten. In ihr wurden alle für die Strafverfolgung relevanten Informationen, wie Namen, Fingerabdrücke, Autonummern etc., gespeichert.
Ihr Boss, ein affektierter Karrierehengst in den Vierzigern, nahm das Blatt Papier und dankte seiner treuen Sekretärin. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, nahm er den Hörer eines Telefons ab, das nicht über die Zentrale lief, und wählte eine Nummer, die er nur sehr selten wählte.
In der Zeughausstraße, ein paar Häuser vom Hauptquartier der Kantonspolizei entfernt, parkte eine alte graue Limousine. Im Innern saßen schweigend zwei Männer und rauchten. Sie warteten schon so lange, dass ihnen vor Müdigkeit fast die Augen zufielen. Plötzlich wurden sie vom Klingeln des auf dem Armaturenbrett befestigten Mobiltelefons aufgeschreckt. Der Beifahrer hob ab, hörte kurz zu, sagte »Danke« und legte wieder auf.
»Der Amerikaner kommt gleich raus«, sagte er.
Ein paar Minuten später sahen sie, wie der Amerikaner aus dem Seiteneingang kam und in ein wartendes Taxi stieg. Als es sich etwa hundert Meter entfernt hatte, fädelte sich die alte Limousine in den morgendlichen Berufsverkehr ein.
5. KAPITEL
Halifax, Nova Scotia
Als der Pilot der Air-Canada-Maschine verkündete, dass sie im Landeanflug seien, verstaute Anna Navarro ihre Unterlagen, klappte das Tablett hoch und versuchte sich ganz auf die vor ihr liegende Aufgabe zu konzentrieren. Sie hatte Angst vorm Fliegen; schlimmer als die Landung war nur der Start. Ihr Magen spielte verrückt. Wie immer schoss ihr auch jetzt der irrationale Gedanke durch den Kopf, dass das Flugzeug jeden Moment abstürzen und ihr Leben in einem höllischen Inferno enden würde.
Ihr Lieblingsonkel Manuel war bei einem Absturz ums Leben gekommen, als bei dem alten klapprigen Schädlingsbekämpfungsflugzeug, zu dessen Besatzung er
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