Das Sigma-Protokoll
der Bedeutung, der Tragweite dieses Geschenks mehr als bewusst. Man hat uns das Leben zurückgegeben. Nicht so sehr die Jugend, sondern eine zweite Chance. Man hat uns Aufschub gewährt.« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Ist das gegen die Natur? Vielleicht. Die Methoden der Krebstherapie sind auch nicht natürlich. Erinnerst du dich, was Emerson gesagt hat? >Die einzige Krankheit ist das Alter.<«
Seine Augen leuchteten. Ben hörte fassungslos zu.
An der Uni hatte Ben ihn mit Professor Godwin angesprochen. Den akademischen Titel wie den Namen auch nur auszusprechen, kam ihm jetzt geradezu frivol vor.
»Warum?« Mehr brachte er nicht über die Lippen.
»Warum? Warum ich persönlich? Das fragst du noch? Man hat mir ein zweites Leben geschenkt. Vielleicht sogar zwei.«
»Würden die Herren mich entschuldigen«, sagte Lenz plötzlich. »Der erste Hubschrauber hebt gleich ab. Ich möchte mich noch verabschieden.« Hastig verließ er den Raum. Er rannte fast.
»Wie habt ihr früher immer gelästert?«, sagte Godwin. »Der ist so alt, der braucht sich keine Langspielplatte mehr zu kaufen. Buchprojekte, von denen ich glaubte, dass ich sie nicht würde abschließen können, habe ich ernsthaft gar nicht mehr erwogen. Und was kann ich jetzt noch alles anpacken. Vor Lenz’ Anruf hatte ich mich gefühlt wie jemand, dessen jahrzehntelanger Kampf um Erkenntnis für die Katz war. Es konnte jeden Augenblick alles aus sein. >Die Jugend weiß nichts, das Alter vermag nichts.< Richtig?«
»Selbst wenn das alles stimmt, was Sie sagen...«
»Schau mich doch an. In der Firestone-Bibliothek bin ich kaum
noch allein die Treppen hochgekommen. Jetzt nehm ich zwei Stufen auf einmal.« Godwin, erkannte Ben urplötzlich, war nicht nur einer der glücklichen Profiteure, er war einer der Täter, einer von Lenz’ Mitstreitern. Wusste er über die Grausamkeiten und die Morde Bescheid?
»Sie wissen doch, was hier vorgeht. Die Flüchtlingskinder im Park... Tausende von verschleppten Kindern... Ist Ihnen das völlig egal?«
Godwin fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. »Ich muss zugeben, dass ich über bestimmte Dinge lieber nichts wüsste. Meine Meinung dazu habe ich immer deutlich zum Ausdruck gebracht.«
»Wir reden über den immer noch andauernden Mord an Tausenden von Kindern«, sagte Ben. »Ohne diese Morde gibt es keine Behandlung. Lenz nennt das ›auf Menschen zurückgreifen‹. Ziemlich nette Umschreibung für systematischen Mord.«
»Das ist...« Godwin zögerte. »Ich gebe zu, dass das ein moralisch ziemlich komplexes Thema ist. ›Honesta turpitudo est pro causa bona.‹«
»Für eine gute Sache wird eine Schändlichkeit zur Tugend«, übersetzte Ben. »Publilius Syrus. Eine der Lehren, die Sie mir mitgegeben haben.«
Godwin also auch. Er gehörte dazu. Er stand auf Lenz’ Seite. »Das Entscheidende ist, dass die Sache eine zutiefst verdienstvolle ist.« Langsam ging Godwin zu einem Ledersofa und setzte sich. Ben nahm ihm gegenüber Platz.
»Wie lange machen Sie schon mit bei Sigma?«, fragte Ben.
»Seit Jahrzehnten. Und ich fühle mich privilegiert, auch an dieser neuen Phase teilhaben zu dürfen. Unter Lenz’ Führung wird sich vieles ändern.«
»Ich nehme an, dass nicht alle dieser Meinung waren.«
»Das stimmt. Lenz nennt sie die angeli rebelli. Die rebellischen Engel. Eine Hand voll Leute, die aus Eitelkeit oder Kurzsichtigkeit einen Machtkampf angezettelt haben. Vielleicht haben sie Lenz nicht getraut oder fühlten sich unter der neuen Führung zurückgesetzt. Ein paar hatten wahrscheinlich auch Skrupel wegen der unumgänglichen Opfer. Bei Verschiebungen im Machtgefüge gibt es immer Widerstände. Vor ein paar Jahren, als
Lenz uns mitteilte, dass die Errungenschaften seines Projekts vermutlich in Kürze ersten Praxistests unterzogen werden könnten, brachte er seinen Führungsanspruch deutlich zum Ausdruck. Das hatte mit Eigennutz nicht das Geringste zu tun. Das Problem war, dass die schwierige Entscheidung anstand, wer zu dem Programm zugelassen würde und wer nicht. Wen man also auf Dauer in den engsten Führungszirkel berufen könnte. Das Risiko der Zersplitterung war zu groß, und Lenz war der perfekte Führer. Die meisten von uns wussten das. Ein paar nicht.«
»Eins würde mich interessieren: Ist das Ziel des Plans, diese spezielle Behandlung jedem Menschen zugänglich zu machen, oder ist sie nur für die so genannten Auserwählten bestimmt?«
»Das ist ein heikler Punkt. Ich war
Weitere Kostenlose Bücher