Das Sigma-Protokoll
Sie. Eitle Allüren sind mir fremd. Andererseits - und da haben Sie natürlich nicht ganz Unrecht - braucht jede Organisation einen Koordinator.«
»Und dafür kommen natürlich nur Sie infrage.«
Eine kurze Pause. »Definitiv.«
»Was passiert eigentlich mit denen, die sich Ihrem erleuchteten Regime widersetzen? Ich nehme an, dass Ihre Körperschaft sich dieser Personen entledigen wird.«
»Jeder Körper muss Gifte ausscheiden, wenn er überleben will«, sagte Lenz mit überraschend sanfter Stimme.
»Ihre Vision ist kein Utopia, sondern ein Schlachthaus.«
»Der Vorwurf ist oberflächlich und zielt an der Sache vorbei«, erwiderte Lenz. »Das Leben besteht aus Kompromissen, Benjamin. Wir leben in einer Welt, die weitaus größere Summen für die Behandlung von Erektionsstörungen ausgibt als für tropische Krankheiten, an denen jedes Jahr Millionen von Menschen sterben. Nehmen Sie doch mal Ihre eigenen Entscheidungen unter die Lupe. Für den Gegenwert einer Flasche Dom Perignon könnten Sie in Bangladesh ein ganzes Dorf impfen lassen. Ihre Kaufentscheidung hat den Tod von Menschen zur Folge. Das ist mein Ernst, Benjamin: Es ist unbestreitbar, dass sie mit den neunzig Dollar für eine Flasche Dom Perignon das Leben einer Hand voll Menschen hätten retten können. Denken Sie mal darüber nach. Sieben oder acht Gläser aus einer Flasche. Jedes Glas ein Menschenleben.« Seine Augen leuchteten: Ein Wissenschaftler, der eine Gleichung gelöst hat und die nächste angeht. »Deshalb behaupte ich, dass solche Kompromisse unvermeidlich sind. Sobald Sie das begriffen haben, werden Sie sich automatisch gewichtigeren Fragen zuwenden: Fragen, bei denen es um Qualität, nicht um Quantität geht. Unserer Arbeit hier ist es zu danken, dass man die produktive Lebensspanne eines außergewöhnlich befähigten Menschen, der für das Gemeinwohl von unbestreitbarem Wert ist, beträchtlich verlängern
kann. Was ist im Vergleich dazu das Leben eines serbischen Ziegenhirten wert? Oder das eines Jungen, der nicht lesen und schreiben kann, der zu einem Leben als Kleinkrimineller verdammt ist? Oder eines Zigeunermädchens, das sonst in Florenz den Touristen die Taschen ausräumen würde? Man lehrt uns die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens, und doch trifft man Tag für Tag Entscheidungen, die erkennen lassen, dass es Leben gibt, die wertvoller sind als andere. Ich trauere aufrichtig um die, die ihr Leben für eine höhere Sache gegeben haben. Und ich wünsche mir zutiefst, dass diese Opfer nicht nötig gewesen wären. Aber ich weiß auch, dass jede große Errungenschaft in der Geschichte unserer Spezies mit Verlust an Menschenleben verbunden war. >Es existiert kein Zeugnis einer Zivilisation, das nicht gleichzeitig Zeugnis von Barbarei geben würde.< Ein großer Denker hat das gesagt. Einer, der viel zu jung von uns gehen musste.«
Ben starrte Lenz an. Er war sprachlos.
»Kommen Sie«, sagte Lenz. »Da ist jemand, der Ihnen guten Tag sagen möchte. Ein alter Freund von Ihnen.«
Ben stockte der Atem. »Professor Godwin...«
»Hallo, Ben.«
Es war sein alter, schon lange pensionierter Mentor aus Princeton. Seine Körperhaltung war aufrechter, als er sie in Erinnerung hatte. Auch die früher runzelige Haut war fast glatt und glänzte rosa. Er sah um Jahrzehnte jünger aus als die zweiundachtzig Jahre, die er zählte. John Barnes Godwin, emeritierter Professor für Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts, sah aus wie das blühende Leben. Er begrüßte Ben mit festem Händedruck.
»Großer Gott«, sagte Ben. Wenn er ihn nicht gekannt hätte, wäre er versucht gewesen, ihn auf Anfang fünfzig zu schätzen.
Godwin war einer der Auserwählten. Kein Wunder: Er war einflussreich und hatte außerordentlich gute Beziehungen - er war der Königsmacher hinter den Kulissen.
Godwin war der schlagende Beweis für Lenz’ Errungenschaften. Sie standen jetzt in einem kleinen, komfortabel eingerichteten Vorraum zur großen Halle. Sofas und Sessel mit kleinen Zierkissen,
Leselampen und Ständer mit Zeitungen und Zeitschriften in zahlreichen Sprachen.
Godwin schien sich zu freuen über Bens verblüfftes Gesicht. Auch Lenz strahlte.
»Du brauchst nicht unbedingt alles zu wissen, was hier vorgeht«, sagte Godwin.
Ben benötigte ein paar Sekunden für eine Antwort. »So kann man natürlich auch damit umgehen.«
»Dr. Lenz hat etwas ganz Außergewöhnliches geschaffen. Wir alle sind ihm zu tiefstem Dank verpflichtet. Außerdem sind wir uns
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