Das Sigma-Protokoll
ohne dass sie ihm auffielen.
Einer war ein grüner, fast zehn Jahre alter Audi, der schon ganz verbeult und verrostet war. Der Fahrer war ein großer, etwa fünfzig Jahre alter Mann, der sein graues Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Der Audi hielt etwa hundert Meter weiter am Straßenrand.
Dann passierte der zweite Wagen Bens Opel. Es war eine graue Limousine mit zwei Insassen. »Glaubst du, dass er uns gesehen hat?«, fragte der Fahrer den Beifahrer auf Schweizerdeutsch.
»Möglich«, sagte der Beifahrer. »Warum hätte er sonst angehalten?«
»Er schaut sich die Karte an. Vielleicht hat er sich nur verfahren.«
»Könnte ein Trick sein. Ich halte mal an.«
Der Fahrer bemerkte den grünen Audi, der ein Stück weiter vorn am Straßenrand stand. »War etwa Unterstützung angesagt?«, fragte er.
6. KAPITEL
Nova Scotia
Am nächsten Morgen fuhren Anna und Sergeant Arsenault zum Haus der Witwe Mailhot und klingelten.
Die Witwe, eine kleine Frau von neunundsiebzig Jahren, öffnete einen Spaltbreit die Tür und schaute sie aus dem Dunkel des Flurs misstrauisch an. Das schneeweiße Haar auf ihrem großen runden Kopf war ordentlich toupiert. Aus einem offenen Gesicht blickten wachsame braune Augen. Die breite und flache Nase glänzte rot; entweder hatte sie geweint oder getrunken.
»Ja?« Wie nicht anders zu erwarten, klang ihre Stimme feindselig.
»Mein Name ist Ron Arsenault, Mrs. Mailhot, ich bin von der RCMP. Das hier ist Anna Navarro vom amerikanischen Justizministerium.« Arsenault war überraschend freundlich. »Wir würden Ihnen gern ein paar Fragen stellen. Könnten wir einen Moment reinkommen?«
»Warum?«
»Wir haben nur ein paar Fragen, das ist alles.«
Die kleinen braunen Augen der Witwe funkelten sie an. »Ich red nicht mit der Polizei. Mein Mann ist tot. Warum lassen sie mich nicht in Ruhe?«
Anna spürte die Verzweiflung in der Stimme der alten Frau. Laut Unterlagen hieß sie mit Mädchennamen Marie LeBlanc und war ziemlich genau acht Jahre jünger als ihr Mann. Wahrscheinlich wusste sie, dass sie nicht mit ihnen zu reden brauchte. Überredungskünste waren jetzt gefordert.
Anna verabscheute es, Familienangehörige von Mordopfern zu befragen. Sie nur Tage oder gar Stunden, nachdem sie einen
geliebten Menschen verloren hatten, mit Fragen zu löchern, war ihr unerträglich.
»Mrs. Mailhot, wir haben Grund zu der Annahme, dass ihr Mann Opfer eines Verbrechens geworden ist.« Arsenault klang jetzt wieder wie ein Beamter.
Die Witwe starrte ihn an. »Das ist lächerlich«, sagte sie. Der Spalt zwischen Tür und Türstock wurde schmaler.
»Vielleicht haben Sie Recht«, sagte Anna sanft. »Aber wenn jemand Ihrem Mann etwas angetan hat, dann würden wir das gern herausfinden.«
Die Witwe zögerte. Dann sagte sie spöttisch: »Ach was, er war alt und hatte es am Herzen. Lassen Sie mich jetzt in Ruhe.«
Es tat Anna Leid für die alte Frau, dass sie sich so kurz nach dem Tod ihres Mannes ausfragen lassen musste. Aber sie konnte ihnen jeden Augenblick die Tür vor der Nase zuknallen, und das durfte auf keinen Fall passieren. Mit noch sanfterer Stimme fuhr Anna fort: »Ihr Mann hätte noch nicht zu sterben brauchen. Sie hätten noch lange Zeit zusammen glücklich sein können. Wir glauben, dass jemand Ihnen diese Zeit gestohlen hat. Jemand, der dazu kein Recht hatte. Und wir wollen herausfinden, wer das war.«
Die Augen der Witwe wurden feucht.
»Ohne Ihre Hilfe werden wir nie herausfinden, wer Ihnen Ihren Mann genommen hat.«
Langsam öffnete sich die Tür.
Im Wohnzimmer war es dunkel. Mrs. Mailhot knipste eine Lampe an, die den Raum in gelbliches Licht tauchte. Sie hatte breite Hüften und war noch kleiner als vermutet. Gekleidet war sie in einen gepflegten grauen Rock und einen elfenbeinfarbenen Seemannspullover.
Das Zimmer wirkte düster, aber makellos sauber; es roch nach Zitronenöl und war gerade erst geputzt worden - wahrscheinlich in Erwartung der Verwandten, die sich für die Beerdigung angesagt hatten. Haar- und Faserproben würden sich am »Tatort« wohl kaum noch finden lassen.
Anna fiel auf, dass der Raum liebevoll eingerichtet war. Das Sofa und die Sessel waren mit einem tweedähnlichem Wollstoff bezogen. Auf den Armlehnen lagen Spitzendeckchen. Die Lampenschirme
mit den Fransen bestanden alle aus dem gleichen weißen Seidenstoff. Die silbergerahmten Fotografien, die auf den kleinen Beistelltischchen neben den Sitzmöbeln standen, waren fein säuberlich
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