Das Sigma-Protokoll
machte einen völlig deplatzierten Eindruck.
Er ist ebenfalls hinter mir her! Er beobachtet mich schon den ganzen Nachmittag. Bens Magen zog sich zusammen.
Wer war das? Und warum war er hier? Wollte er dasselbe wie Cavanaugh? Und wenn er ihn töten wollte, warum hatte er es dann nicht schon lange getan? Es hätte genügend Gelegenheiten gegeben. Cavanaugh hatte die Pistole am helllichten Tag in der Bahnhofstraße gezogen. Was hielt >Pferdeschwanz< davon ab, ihn in einem fast leeren Wirtshaus zu erschießen?
Er winkte dem Kellner, der mit fragendem Gesichtsausdruck Bens Tisch zustrebte.
»Könnte ich bitte einen Kaffee haben?«, fragte Ben.
»Natürlich.«
»Wo ist die Toilette?«
Der Kellner deutete in eine Ecke des Gastraumes, wo im Licht einer trüben Lampe ein schmaler Gang zu erahnen war. Ben deutete mit einer ausholenden Armbewegung ebenfalls in diese Richtung.
>Pferdeschwanz< konnte das unmöglich übersehen haben.
Ben schob einen Geldschein unter seinen Teller, steckte sich ein Streichholzbriefchen ein und stand langsam auf. Der Gang zur Toilette lag an der Seite des Gastraumes, die sich der Küche genau gegenüber befand. Das kam Ben ganz gelegen, denn dann konnte >Pferdeschwanz< nicht argwöhnen, dass er durch den Hintereingang der Küche verschwinden wollte.
Der Toilettenraum war klein, hatte kein Fenster und verfügte über ein Klo und ein Waschbecken - beides war aus Porzellan und sah schon sehr alt aus. Es roch angenehm nach Seife. Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer des Lokals, die auf dem Streichholzbriefchen notiert war. Ben hörte das leise Klingeln eines Telefons. Wahrscheinlich das altertümliche Telefon auf der Bar im Gastraum oder eines in der Küche. Oder beide.
Eine Stimme sagte: »Altes Gebäude, guten Abend.« Hört sich an wie der Kellner, dachte Ben.
Mit tiefer, gesetzter Stimme sagte Ben: »Ich würde gerne mit einem Ihrer Gäste sprechen. Er isst bei Ihnen zu Abend. Es ist dringend.«
»Sicher, gern. Wie ist der Name?«
»Sie werden Ihnen nicht kennen. Der Mann hat einen langen grauen Pferdeschwanz und trägt meistens eine braune Lederjacke.«
»Ich glaube, ich weiß, wen Sie meinen. Ungefähr fünfzig Jahre alt?«
»Ja, das ist er. Würden Sie ihn ans Telefon bitten? Es ist wirklich sehr dringend. Ein Notfall.«
»Sofort, einen Augenblick«, sagte der Kellner, der schon genauso angespannt klang wie Ben. Er legte den Hörer neben das Telefon.
Ohne auszuschalten, steckte Ben das Handy in die Brusttasche
seines Sportsakkos, verließ rasch die Toilette und ging zurück in den Gastraum. >Pferdeschwanz< saß nicht mehr an seinem Platz. Das Telefon an der Bar war vom Eingang des Lokals nicht zu sehen; auch Ben hatte es erst bemerkt, nachdem er sich gesetzt hatte. Wer an der Bar stand, konnte weder den Eingang noch den Bereich zwischen Eingang und Toilette einsehen. Ben ging schnell zur Tür und verschwand nach draußen. Er hatte vielleicht zehn, fünfzehn Sekunden. Dann würde >Pferdeschwanz< merken, dass mit dem Anrufer, der ihn so genau hatte beschreiben können, irgendetwas faul war.
Ben riss die Tür des verbeulten Opels auf, schnappte sich seine Taschen und rannte zum grünen Audi. Der Schlüssel steckte, als ob der Fahrer für einen schnellen Aufbruch gerüstet sein wollte. An Diebstahl brauchte man in einem verschlafenen Nest wie diesem wahrscheinlich keinen Gedanken zu verschwenden. Bis heute. Außerdem glaubte Ben nicht, dass >Pferdeschwanz< die Polizei rufen würde, um den Diebstahl zu melden. Er schlug zwei Fliegen mit einer Klappe: Er hatte ein funktionierendes Fahrzeug, und sein Verfolger hatte keins. Ben stieg ein und drehte den Zündschüssel. Jetzt spielte es keine Rolle mehr, wie viel Lärm er machte. Ben legte den Rückwärtsgang ein, schoss mit quietschenden Reifen rückwärts auf die Straße, schleuderte herum und jagte mit Vollgas vom Rathausplatz.
Eine Viertelstunde später steuerte Ben den Audi von der schmalen Landstraße vor ein aus Stein und Holz erbautes Gebäude, das sich abseits von jeder bewohnten Gegend mitten im Wald befand. Auf einem Schild stand LANDGASTHOF.
Ben parkte den Wagen zwischen ein paar Kiefern, sodass man ihn von der Straße aus nicht sehen konnte. Dann ging er zur Haustür, über der ein Schild mit der Aufschrift EMPFANG hing.
Er klingelte. Nach ein paar Minuten wurde Licht gemacht. Es war Mitternacht, der Besitzer hatte anscheinend schon geschlafen.
Ein alter, übel launiger Mann mit zerfurchtem Gesicht
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