Das Sigma-Protokoll
hinauf, und der Wachmann zeigte zur Tür, die auf eine schmale Gasse hinter der Bank führte. Ben drückte die Klinke, die Tür war offen. »Hier geht unser kleiner gemeinsamer Ausflug zu Ende«, sagte er.
»Glauben Sie etwa, dass Sie außerhalb des Gebäudes sicherer sind?«, fragte Lämmel höhnisch.
Ben öffnete die Tür und steckte den Kopf hinaus. Die kühle Luft auf dem erhitzten Gesicht tat gut. »Mit der Polizei werde ich schon fertig, keine Angst«, sagte er.
»Mit der Polizei?«, sagte Lämmel. »Die hab ich nicht gemeint.« Er spuckte aus.
Ben spürte plötzlich wieder dieses schmerzhafte Ziehen im Magen. »Wovon reden Sie überhaupt?«, blaffte er, nahm den Revolver in beide Hände und drückte Lämmel die Mündung zwisehen
die Augen. »Los, raus mit der Sprache! Was meinen Sie damit?«
Plötzlich zerriss ein Knall die Stille, und Lämmel hustete Ben einen warmen, blutigen Sprühregen ins Gesicht. Einen Kugel hatte Lämmels Hals zerfetzt. Hatte er selbst versehentlich den Abzug gedrückt? Ein zweiter Schuss beantwortete die Frage. Jemand schoss auf ihn.
O Gott! Nicht schon wieder!
Während Lämmel vornüber kippte, sprang Ben hinaus in die feuchtkalte Gasse. Er hörte einen Knall wie von einer Spielzeugpistole, dann ein klickendes metallisches Geräusch. An dem Müllcontainer links von ihm war ein winziges Stückchen Farbe abgeplatzt. Der Schütze musste rechts von ihm stehen.
Er spürte einen kurzen, heißen Schmerz in der Schulter und hechtete hinter den Container. Hier war er zumindest vorübergehend sicher. Etwas Kleines, Dunkles bewegte sich - eine flüchtende Ratte. Hinter ihm erhob sich eine etwa schulterhohe Zementmauer, die den Hofparkplatz der Bank von dem des Nachbargebäudes trennte. Ben schob den Revolver hinten in den Gürtel und zog sich über die Mauer auf die andere Seite. Von hier war es nur noch ein kurzes Stück bis zur Usteristraße. Er zog den Revolver und rannte schießend los, wobei er die Waffe von links nach rechts schwenkte und so das gesamte vor ihm liegende Terrain unter Feuer hielt. Potenzielle Gegner mussten zwangsläufig in Deckung gehen. Jede Sekunde war wichtig, überlebenswichtig. Das von hinten kommende Feuer brauchte ihn nicht zu kümmern. Die Mauer wehrte die Kugeln ab.
Er sprintete die Gasse hinunter, Richtung Usteristraße. »Lauf, als ob es um dein Leben ginge!«, hatte ihm sein Leichtathletiktrainer vor Wettkämpfen immer gesagt. Jetzt tat er es.
Was, wenn wirklich mehr als ein Mann hinter ihm her war? Andererseits konnte er nicht glauben, dass sie ihm so schnell ein ganzes Team auf den Hals hetzen konnten. In Bens Kopf herrschte Chaos. Konzentrier dich, verdammt!
Als ihm ein fauliger Geruch in die Nase stieg, hatte er eine Idee. Der Gestank wehte von der Sihl herüber, einem reizlosen schmalen Flüsschen, das an der Platzpromenade von der Limmat abzweigte. Ben überquerte die Gessnerallee, so mit seiner Idee
beschäftigt, dass er fast von einem Taxi überfahren wurde. Der vollbärtige Fahrer stieg auf die Bremse, hupte wie wild und schrie ihm ein paar Flüche hinterher.
Gleich darauf stand er am Ufer der Sihl, einer schräg abfallenden Böschung aus schwarzen Steinblöcken, und entdeckte schnell, was er gesucht hatte: ein kleines Motorboot, wie es auf der Sihl viele gab. In dem Boot saß ein fetter Mann mit Sonnenbrille, der Bier in sich hineinkippte. Er steckte in einer Schwimmweste, die ihn noch unförmiger aussehen ließ, als er ohnehin schon war, und hielt eine Angelrute in der Hand, die er aber noch nicht ausgeworfen hatte. Die Strömung würde das Boot bis in den Sihlwald treiben, einem zehn Kilometer südlich von Zürich gelegenen Naturschutzgebiet, wo die Sihl flacher wurde und sich in zahlreiche kleinere Flussläufe aufteilte. Das Gebiet war ein beliebtes Ausflugsziel der Stadtbewohner.
Der fette Mann wickelte ein Wurstbrot aus und warf die Plastikfolie ins Wasser. Ein für Schweizer Verhältnisse bemerkenswerter Akt der Umweltverschmutzung. Ben sprang voll bekleidet ins Wasser und kraulte kraftvoll auf das Boot zu, wobei die schnell voll gesogene Kleidung ihn stark behinderte.
Die Sihl trug die Eiseskälte des Gletschers, wo der Fluss entsprang, hinunter ins Tal. Obwohl er mit aller Kraft gegen die träge Strömung anschwamm, spürte er, wie sein Körper langsam taub wurde.
Der Mann im Boot verschlang gierig sein Brot und nahm zwischen den Bissen immer wieder einen kräftigen Schluck Kronenberg. Er merkte nichts, bis das Boot plötzlich
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