Das Sigma-Protokoll
Lesegerät steckte.
Noch ein paar Schritte durch einen kurzen Gang, und sie standen in Suchets geräumigem, lichtdurchflutetem Büro. Der einzige Gegenstand auf seinem Glasschreibtisch war ein Computer. Er setzte sich hinter den Schreibtisch, Ben und Deschner nahmen davor Platz. Nur Sekunden später kam eine Frau mittleren Alters herein und stellte vor den Besuchern ein Silbertablett mit zwei Espressos und zwei Gläsern Wasser auf den Tisch. Dann betrat ein junger Mann den Raum und reichte Suchet einen Aktenordner.
Suchet klappte ihn auf. »Ich muss Sie das natürlich fragen: Sind Sie Benjamin Hartman?« Suchet hob den Blick von dem Schriftstück und schaute Ben an.
Ben nickte. Er spürte ein Ziehen im Magen.
»Uns liegt eine Nebenurkunde vor, die bestätigt, dass Sie der alleinige Erbe des Nießbrauchberechtigten dieses Kontos sind. Und Sie bestätigen das ebenfalls. Korrekt?«
»Korrekt.«
»Rechtlich gesehen, ist damit der Nachweis geführt. Der Augenschein - nun ja, es ist nicht zu übersehen, dass Sie Peter Hartmans Zwillingsbruder sind.« Er lächelte. »Womit, Mr. Hartman, kann ich Ihnen also dienen?«
Die Schließfächer der Handelsbank befanden sich im Keller. Leuchtstoffröhren hingen an niedrigen Decken und beleuchteten einen Bereich, der bei weitem nicht so elegant und modern war wie oben. Sie gingen durch einen schmalen Korridor. Hinter den nummerierten Türen verbargen sich wahrscheinlich Stahlkammern. Die Innenseiten der größeren Nischen, die von dem Gang abzweigten, schienen mit Messingplatten verkleidet zu sein. Als sie näher kamen, sah Ben, dass in die Wände verschieden große Schließfächer eingelassen waren.
Vor der Nische mit der Nummer 18 C blieb Suchet stehen und gab Ben einen Schlüssel. »Ich nehme an, Sie möchten ungestört sein«, sagte er. »Herr Deschner und ich, wir werden uns zurückziehen. Wenn Sie fertig sind, geben Sie mir Bescheid.« Er zeigte
auf das weiße Telefon, das auf dem Stahltisch in der Mitte des Raumes stand.
Ben ließ den Blick über die Schließfachreihen gleiten. Und was jetzt? Sollte das eine Art Test werden? Oder nahm Suchet ganz selbstverständlich an, dass Ben die Nummer des Schließfaches kannte? Ben schaute Deschner an, der sein Unbehagen zu spüren schien, aber seltsamerweise nichts sagte. Dann betrachtete Ben den Schlüssel und sah die eingeprägte Nummer. Idiot! Natürlich. Wo sonst?
»Danke«, sagte er. »Ich bin so weit.«
Die beiden Schweizer verließen plaudernd den Keller. Ben bemerkte eine Überwachungskamera, die an der Wand direkt unterhalb der Decke montiert war. Das rote Lämpchen leuchtete.
Nummer 322 war ein kleines Schließfach, das sich etwa auf Augenhöhe befand. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn.
Sein Puls ging schneller. Was in dem Schließfach war so wertvoll und gefährlich, dass es Peter das Leben gekostet hatte?
In dem Fach lag ein Umschlag aus steifem Wachspapier. Er nahm ihn heraus. Seinem Gefühl nach war er leer.
Hastig öffnete er den Umschlag und zog den Inhalt heraus. Es war kein Dokument. Es war eine etwa dreizehn mal achtzehn Zentimeter große Fotografie.
Ben stockte der Atem.
Das Foto zeigte eine Gruppe Männer. Einige trugen Naziuniformen, die anderen elegante Anzüge und Mäntel in der Mode der Vierzigerjahre. Ein paar erkannte Ben sofort. Giovanni Vignelli, den mächtigen italienischen Industriellen und Automobilmagnaten aus Turin, dessen gewaltige Industrieanlagen das italienische Militär mit Dieselmotoren, Eisenbahnwaggons und Flugzeugen versorgt hatten; den fremdenfeindlichen Holländer Sir Han Detwiler, Chef der Royal Dutch Petroleum; und den legendären Gründer der ersten und größten amerikanischen Fluggesellschaft. Manchen Gesichtern konnte er zwar keine Namen zuordnen, aber er kannte sie aus Geschichtsbüchern. Einige der Männer trugen Schnauzbärte, auch der attraktive dunkelhaarige junge Mann, der neben einer Nazigröße stand, die mit
blassen Augen arrogant in die Kamera blickte und die Ben vage bekannt vorkam.
Bitte nicht.
Den Nazi, dessen Gesicht er schon mal irgendwo gesehen hatte, konnte er nicht identifizieren. Den attraktiven jungen Mann schon. Es war sein Vater.
Max Hartmann.
Die unten mit Schreibmaschine auf den weißen Rand getippte Bildunterschrift lautete: ZÜRICH 1945. SIGMA AG.
Er steckte das Foto wieder in den Umschlag und schob diesen in die Brusttasche seiner Anzugjacke.
Es gab jetzt keinen Zweifel mehr, dass sein Vater ihn angelogen hatte, dass
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