Das silberne Schiff - [Roman]
den Kopf einmal ganz herum und starrte mich an – etwas, wozu nur Gebras imstande sind. Die Ohren waren nach vorn gerichtet, der Kopf ein wenig schief gelegt. »Los«, drängte ich. »Los jetzt!« Energisch ließ ich die Zügel gegen ihren schlanken Hals schlagen. Ich wusste nicht, ob es die Zügel, mein Befehl oder meine Gefühle waren, jedenfalls trabte sie zum steilen Pfad hinüber und machte sich ohne Protest an den Abstieg. Wir trafen auf die Alte Straße und bogen ab. Jetzt lag der Weg im vollen Licht. Tiger nahm ihn im Galopp, sprang über Hindernisse, kämpfte sich vorwärts. Sie wusste, wie dringend ich mein Ziel erreichen musste. Meine Fingerknöchel wurden weiß auf dem Sattelknauf, und meine freie Hand mit den Zügeln klammerte sich an Tigers Hals.
Es dauerte ewig, und ich hätte die ganze Zeit am liebsten geschrien.
In der Stadt starben Menschen. Tiger stürmte spritzend durch einen Bach und verlor auf einem glitschigen Stein fast das Gleichgewicht.
Die dünnen Zweige eines Samtbaums verfingen sich in meinem Haar und rissen mir eine Strähne aus. Wie hatte ich vergessen können, was Joseph durchgemacht hatte?
Tiger und ich hatten nun die Hälfte der Alten Straße hinter uns gebracht. Den schlimmsten Teil.
Liam schlich sich an ein gefährliches Ziel heran. Akashi wurde hoffentlich von Söldnern aus der Stadt gejagt, um sie in die Fallen zu locken, die er aufgestellt hatte.
Tiger wich vorsichtig einer wedelnden Stolperrebe aus.
Etwas schoss aus den Rotbeerenbüschen neben dem Weg hervor, und zum Glück schnaufte Tiger nur und ignorierte es. Sie galoppierte unbeirrbar weiter. Ich tätschelte ihren Hals und flüsterte ihr ein inniges Dankeschön in die zurückgelegten Ohren. Dann war auch die Alte Straße hinter uns, und der breitere, flachere Hochweg sauste unter Tigers Füßen vorbei.
Jeder Atemzug, jeder Augenblick schien ewig zu dauern.
Es würde gutgehen. Ja, das würde es. Sobald ich bei Kayleen war, konnte ich ihr helfen.
Ich ließ Tiger im Gehege an der Gabelung des Hochweges zurück und nahm mir nur die Zeit, ihr das Geschirr vom Kopf zu ziehen. Sie hatte hier einen Bach, aus dem sie trinken konnte, und genügend natürlich wachsendes Gras für zehn Mahlzeiten. Obwohl Tiger und ich uns alle Mühe gegeben hatten, war mir mindestens eine Stunde des Kampfes entgangen, als ich endlich in die Höhle stürzte.
Wie erwartet lag Kayleen nicht weit vom Höhleneingang auf einem Haufen aus Decken. Hunter saß neben ihr und rieb ihre Schläfen. Erschüttert sah ich, dass er den Ohrempfänger trug. Offensichtlich kam Kayleen damit nicht mehr zurecht. Er blickte zu mir auf. Seine Stirn lag in tiefen Sorgenfalten. »Sie geht immer wieder rein und raus. Manchmal spricht sie zusammenhängend, manchmal schreit sie nur.« Ihre offenen Augen blickten leer, aber sie atmete, und ihre Haut hatte wenigstens etwas Farbe.
»Was geschieht in Artistos?«, wollte ich von Hunter wissen.
»Immer noch keine Antwort von Stile oder seiner Gruppe. Ruth hat ein paar Leute rübergeschickt, um nachzusehen, aber sie haben sich noch nicht zurückgemeldet. In der Zwischenzeit wurde auf Ruths Gruppe geschossen, aber sie scheint selber damit fertigzuwerden.«
»Sie bringt sich noch in Teufels Küche! Was ist mit Liam?«
Er tippte gegen den Ohrempfänger. »Ich weiß es nicht. Aber Kayleen hat seinen Namen zweimal gerufen. Wahrscheinlich versucht sie ihn zu erreichen. Aber er gibt keinen Ton von sich.«
Nun, er sollte auch keinen Ton von sich geben. Er hatte vier Leute bei sich: Sky, Londi, ein weiteres Mitglied aus Ruths Sippe, und Alyksa, die Kundschafterin aus Akashis Sippe. Sasha war bei Akashi. Also waren sie vielleicht alle noch am Leben.
Ich ging neben Kayleen in die Knie, nahm ihre schlaffe Hand und massierte sie. Kayleen blinzelte, erstarrte dann und rief: »Liam!« Eine Träne rann über ihre Wange, dann eine zweite. Sie riss die Hand los und schlug mit geballten Fäusten auf die Decke.
»Kayleen!« Verzweifelt versuchte ich sie zu erreichen. »Kayleen, wo bist du?«
»Am Wasser. Es ist eine Falle!« Sie sah mich nicht an, nahm meine Anwesenheit nicht weiter zur Kenntnis, aber ihre Worte waren klar und verständlich. »Sie haben überall in der Infrastruktur Fallen installiert.«
»Liam ist bisher nichts zugestoßen?«
»Sie haben es nicht auf ihn abgesehen. Aber das wird ihn nicht retten.« Sie entspannte die Hände und setzte sich kerzengerade auf. Plötzlich war sie aufs Höchste konzentriert.
»Warum
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