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Das singende Kind

Das singende Kind

Titel: Das singende Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Korn
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Panade auf und schluckte sie herunter und ein paar Flusen des schwarzen Teppichs dazu.
    Die Nummer der Concierge. Trudi fand sie in Georgs Adreßbuch unter dem Namen ihres Vaters. Sie anrufen. Bitten, den Vater in die Hausmeisterwohnung zu holen. Warum hatten die Eltern es immer abgelehnt, ein Telefon zu haben. Julie hatte sich nicht mit einer Telefonschnur ums Leben gebracht. Die Nummer. Trudi wollte es noch viel lieber vom Vater hören als von der Mutter, daß die Visionen, die sich nun so entsetzlich in ihr auftaten, nicht wahr waren. Nur entstanden, weil Trudi die wenigen Wörter, die sie mitbekommen hatte, falsch zusammensetzte.
    Trudi wollte gerade nach dem Hörer greifen, als das Telefon noch einmal klingelte. Sie nahm ab und nannte ihren Namen und verstand jedes Wort des Konsulatsbeamten, der ihr sagte, was am Abend vorher in einem Tunnel vor Nizza geschehen war.
    Georg zog die Popelinejacke aus und hängte sie an die Garderobe. Er wollte gerade ins Arbeitszimmer gehen und das Kuvert mit den Fotos auf den Tisch legen, die er aus einem Archiv geholt hatte, als er das Summen hörte. Er blieb stehen und horchte auf den Ton, und es fiel ihm das Erholungsheim ein, in das er als Zehnjähriger geschickt worden war. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Georg den Zusammenhang fand, und er mußte sich erst wieder die Landschaft vor Augen holen, die Rapsfelder, die Telegrafenmasten, die darin standen, um sich dann an das Vibrieren ihrer Drähte zu erinnern. Es hatte geklungen wie dieses Summen in seiner Wohnung.
    Er ging durch den Flur und schaltete auch im hinteren Teil des dunklen Schlauches das Licht an. Die Schlafzimmertür stand offen, doch das Tageslicht war zu trübe und schaffte es nicht mehr aus dem Zimmer hinaus. Am Nachmittag hatte es zu regnen angefangen.
    Das Summen kam aus Trudis Schrank. Georg hörte es deutlich. Er tat einen Schritt darauf zu und hatte auf einmal Angst davor, die Türen zu öffnen, die nur angelehnt waren. Doch er zog sie auf, und sie knarzten, wie vor Tagen schon, als er sich an sie herangemacht hatte. Georg senkte den Kopf und glaubte, gleich gegen das Summen zu stoßen, so greifbar war es geworden. Er griff in die Kleider und schob sie auseinander und sah in das aufgelöste Gesicht von Trudi, die auf dem Boden des Schrankes saß.
    Das Mohairkleid, dessen Ärmel sie vor ihren Mund preßte, löste wieder eine Erinnerung in ihm aus, doch er schüttelte sie gleich ab und registrierte nur, daß es der Stoff des Kleides war, der den ungeheuren Klagelaut dämpfte, der aus Trudi strömte, und ihn zu diesem tiefen Summen formte.
    Trudi kroch aus dem Schrank und stand auf. Georg faßte sie an den Schultern und wartete darauf, zu erfahren, was sie so schrecklich klagen ließ. Er hatte schon viele Schmerzchen von ihr erlebt. Trudi war leicht zu erschüttern. Doch das hier schien schwerer zu wiegen. Er drückte sie in ihren alten Sessel und setzte sich auf die Bettkante und sah Trudi an.
    Georg legte die achthundertzweiundsechzig Mark für den Flug nach Nizza auf die Theke des Schalters. Zehn Scheine. Zwei Markstücke. Er hatte sich das meiste von Jos geliehen. Der Umschlag in seinem Jackett war leer gewesen. Das Septembergeld noch nicht geholt.
    Die Maschine flog eine Stunde später. Sechzehn Stunden war es erst her, daß er Trudi im Schrank gefunden hatte, und sein Aufbruch vielleicht zu eilig. Er hätte sie noch nicht allein lassen sollen. Doch Georg wollte es hinter sich haben, und er wollte den Billigtarif nutzen, und dazu blieb ihm nur der Samstag.
    Er hatte Trudi in die Obhut von Jos gegeben, und bereits eine halbe Stunde vor Abflug, als er viel zu früh vor der Glastür auf und ab ging, hinter der der Flughafenbus halten sollte, bereute er, Trudi nicht gezwungen zu haben, ihn nach Nizza zu begleiten. Er sah Trudi und Jos vor sich, wie sie im Fenster lehnten und ihm, der unten mit dem Koffer stand, zuwinkten. Wahrscheinlich hatten sie sich in den Armen gelegen, kaum, daß er gegangen war.
    Unsinn. Er wußte, daß das Unsinn war. Doch er malte es sich aus, und war schon bei dem Bild einer trostsuchenden nackten Trudi angekommen und einem nackten, sie fest umschlingenden Jos, als die Maschine auf die Startbahn rollte und ihr Tempo beschleunigte. Das lenkte ihn ab. Georg hatte Angst vorm Fliegen.
    Doch die Bilder kamen wieder, und er hörte nicht, daß der Mann auf dem Sitz neben ihm zum zweitenmal bat, durchgelassen zu werden, und als er es endlich mitbekam, hatte er Schwierigkeiten, seine

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