Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das singende Kind

Das singende Kind

Titel: Das singende Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Korn
Vom Netzwerk:
Grabes, das sie geschaufelt hatten. Hebräische Schrift. Hier ruht unsere Fliege. Wilna 1927.
    In ein Meter achtzig Höhe teilte die Schnur das Zimmer. Höher, als Georg groß war. Er konnte leicht darunter durchgehen. Auch die um Haaresbreite größere Trudi. Jos war acht Zentimeter zu groß für Georgs Schnur. Er würde jedesmal den Kopf senken müssen.
    Du gehst mir auf die Nerven«, sagte Jos, »du gehst mir in letzter Zeit ganz schrecklich auf die Nerven.«
    »Dott hast du auch erst gemalt und dann mit ihr geschlafen.«
    »Ich schlafe nicht mit Trudi.« Jos schaukelte den Klammerbeutel, den Georg an die Schnur gehängt hatte. »Ich habe auch nicht die leiseste Lust, Trudi zu malen, und Dott hast du mir zugetrieben.«
    »Klar«, sagte Georg, »wie ich dir Trudi zutreibe.«
    »Setz dich unserem Kleinen doch auf den Schoß, Dott. Du schaust ja schon ganz sehnsüchtig, Dott.« Jos kam ins Husten, so hoch hatte er die Sätze hervorgequakt. »Hätte ich im Traum daran gedacht, Teil einer masochistischen Inszenierung zu werden, die mir dreizehn Jahre später noch vorgehalten wird, ich wäre davongerannt.«
    »Ich wollte ein Mann der großen Gesten sein«, sagte Georg, »ich bin vor Schmerz zersprungen, als Dott auf deinem Schoß saß.«
    »Du bist ein kleiner Spießer«, sagte Jos.
    »Weil ich nicht freundlich nicke, wenn die Frauen, die ich liebe, zu dir laufen und mit offenen Hosen empfangen werden.«
    »Und obendrein ordinär«, sagte Jos.
    »Das war auch das Schlußwort meiner Mutter.« Georg lachte. »Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört. Wahrscheinlich hat sie sich in Sagrotan ertränkt aus Kummer über ihren Sohn.«
    »Erzähl Trudi endlich von deinen Hoden. Dann geht es dir besser.«
    »Was soll ich ihr als Trost anbieten? Ein paar Aktsitzungen mit meinem alten Freund Jos?«
    »Du sammelst so viel Gift in dir, daß du schon Halluzinationen hast. Kotz in deinen Klammerbeutel. Vielleicht kommt es mit raus.«
    »Guck dir das Bild an«, sagte Georg. Er griff nach einem Foto, das auf seinem Schreibtisch lag, und stand auf.
    »Ich will es nicht sehen«, sagte Jos, »ich bin schon traurig.«
    Doch Georg kam schon auf ihn zu und holte eine hölzerne Wäscheklammer aus dem Beutel. Er hängte das Bild genau vor Jos. Trudi und Georg in großer Umarmung. Am Tag ihrer Hochzeit. Sie taten glücklicher, als es in ihren Gesichtern aussah. »Ein glückliches Paar«, sagte Georg, »daran soll sich nichts ändern.«
    »Es hat niemals Sinn, sich zu belügen«, sagte Jos, »hast du nicht diese Behauptung aufgestellt?«
    »Halt dich einfach mal für ein paar Tage fern«, sagte Georg, »ich denke, das wird uns allen guttun.«
    »Einverstanden«, sagte Jos, »Ende der Woche bin ich wieder da, und dann hast du mit Trudi gesprochen. Sonst spreche ich mit ihr.«

Am Abend des zweiundzwanzigsten August fuhren die Lafleurs mit dem vierten und letzten ihrer Citroëns zu schnell in einen zu dunklen Tunnel hinein und prallten auf einen französischen Laster, der nicht einen Funken Licht an sich hatte. Es war gar kein so schwerer Tod, das Sterben in wenigen Sekunden vorbei. Doch hätten Hans und Hanni Lafleur es sich aussuchen dürfen, dann würden sie darum gebeten haben, es schon ein paar Stunden vorher zu wissen. Wenn es ihnen vielleicht jemand am Morgen des Tages gesagt hätte, als sie vor ihrer Bar saßen und Milchkaffee tranken und den ersten Pastis noch eine Stunde hinauszuschieben versuchten, dann hätte ihnen diese Zeitspanne für ihren Abschied ausgereicht, und sie hätten noch einmal mit Trudi telefoniert.
    Trudi schlang ein Schnitzel, als das Telefon klingelte. Sie kaute schnell den letzten Bissen durch, bevor sie den Hörer nahm und sich meldete. Doch die kalte Panade klebte am Gaumen, und die vier Silben ihres Namens trennten sich nur unvollkommen. Der Mann am anderen Ende der Leitung konnte Trudi Fortgang kaum verstehen.
    Giaume Alziari redete ein zu eigenes Französisch und radebrechte dann in zwei anderen Sprachen, von denen Trudi das Deutsch am allerschlechtesten verstand, so daß seine Nachricht in großen Teilen an ihr vorüberging und Trudi nicht wußte, mit wem sie sprach, und nur ahnte, daß etwas passiert war.
    Giaume dachte, das Schreckliche losgeworden zu sein, und legte auf, um ein großes Glas an der eigenen Bar zu trinken. Trudi blieb neben dem Telefon stehen und bückte sich schließlich nach den gelblichen Krümeln des zu lau gebratenen Schnitzels. Tupfte mit dem spuckefeuchten Finger die Spuren der

Weitere Kostenlose Bücher