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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Luepkes
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Sonnentau. An den Tentakeln, die einen süßlichen Duft verströmen, bleiben Insekten hängen, werden eingerollt und verdaut.»
    Die Rentner näherten sich mit großen Augen dem kleinen Gewächs, warteten auf Mücken oder Fliegen, die das merkwürdige Wesen dort unten fütterten. Denn irgendwie schien der Sonnentau für die Menschen so etwas wie ein Raubtier zu sein, etwas Wildes, Hungriges, obwohl gerade mal zehn Zentimeter hoch. Die Faszination war bei allen Gruppen dieselbe – sei es nun bei einem Kindergartenausflug, bei Managertagungen oder Kaffeefahrten.
    Jakob stellte sein Fernglas auf das Stativ und visierte den See an. Heute war ein guter Tag, um Vögel zu beobachten. Bei seinem Rundgang am Morgen hatte er einige Tiere mehr gezählt, zudem waren ihm seltene Exemplare vor das Objektiv gekommen, ein Storchenpaar zum Beispiel oder eine Schar Birkhühner, die eigentlich vom Aussterben bedroht waren. Das Moor war voll von wilden Vögeln, die flatterten und Nester bauten, die sich unbeobachtet fühlten hier im Naturschutzgebiet des Südbrookmerlander Hochmoores. Im Quadrat, welches dem Blick durch das Fernglas Grenzen setzte, machte Jakob nun rund fünfzig Vögel aus. Brachvögel, Habichte, weiter hinten ein paar Kraniche, er konnte sie inzwischen alle beim Namen nennen, und das flinke Addieren fiel ihm nach fünf Monaten auch nicht mehr allzu schwer. Kurz erklärte er der Gruppe, was sie beim Blick durch das Fernglas erwartete. Der erste Mann schaute angestrengt, dann wich er fast aufgeregt zurück: «Kann es sein, dass ich eben eine Eule gesehen habe? Am helllichten Tag?»
    Die Gruppe lachte, doch Jakob schaute nach und bestätigte. «Heute ist Ihr Glückstag. Sie sehen eine Sumpfohreule, leider ein inzwischen seltener Vogel und die einzige Eulenart, die auch tagsüber auf die Jagd geht.»
    Nun waren die Leute nicht mehr zu halten. Ungeduldig wartete jeder, auch mal kurz in die Wildnis zu spähen und einen guten Hobby-Ornithologen abzugeben.
    Jakob freute sich über das wachsende Interesse. Es war ein guter Job, den er sich in der Zeit zwischen Abitur und Studium ergattert hatte. Zwölf Monate – von denen er bereits vier geschafft hatte – im freiwilligen ökologischen Jahr mit Natur und Menschen zu arbeiten. Allemal besser als Altenpflege im Zivildienst oder – schlimmer noch – beim Bund durch irgendwelche schlammigen Gräben zu robben und dann noch Schiss zu haben, dass man in irgendein Krisengebiet in Richtung Osten geschickt wird.
    Hier war es besser. In der Ferne konnte er die Umrisse des Südufers des «Großen Meeres» erkennen. Der flache See hatte seinen protzigen Namen angeblich von unwissenden Landratten erhalten, die irgendwann in der Vergangenheit einmal gen Norden gezogen waren, weil man ihnen dort das «Große Meer» versprochen hatte. Und als sie schließlich am ostfriesischen Gewässer angekommen waren, dachten sie, sie wären am Ziel, und ließen sich nieder. Nur wenige Kilometer weiter hätten sie dann das wirkliche Meer, die Nordsee, zu Gesicht bekommen. Doch sie sollen angeblich nie so weit gekommen sein.
    Jakob mochte diese Geschichte. Auch ihn hatte es hier ans Große Meer verschlagen, zumindest für einen absehbaren Zeitraum. Er konnte seiner Leidenschaft nachgehen und stundenlang allein durch die Natur schweifen, er hatte seine Ruhe. Seine Schulzeit in Osnabrück lag hinter ihm, die Tage, die er bei seiner Mutter leben musste, waren gezählt. Nach dem Ökojahr wollte er nach Kanada gehen und für eine Gruppe Umweltaktivisten arbeiten. Einfach raus aus dem Ganzen, einfach weg von dem, was er bislang sein Leben genannt hat. Es gab nicht viel, was ihn hielt, auf dem Gymnasium hatte er nur wenige Kontakte gehabt, und alle waren dabei, sich in sämtliche Himmelsrichtungen zu verstreuen. Jakob Mangold befand sich in Aufbruchstimmung. Er wusste, hinter dem «Großen Meer» lag noch Größeres, was entdeckt werden wollte.
    Zumindest hatte er die Sache bislang so gesehen. Er hatte ja nicht damit gerechnet, dass ihn ausgerechnet hier, auf dem Absprung in die Zukunft, seine Vergangenheit einholen würde. Und ihn daran hinderte, Schritte nach vorn zu machen.
    Seit er dahintergekommen war, dass sein Vater gar nicht tot war, sondern hier in Südbrookmerland lebte, mit neuer Familie, mit neuen Kindern, denen er wahrscheinlich Wurzelkobolde aufs Papier zeichnete, hatte sich alles verheddert. Jakob war klar, er musste diese Sache hier irgendwie in den Griff kriegen, entwirren, sich davon befreien,

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