Das Sonnentau-Kind
Schalter, der sich umlegen ließ, sobald sie in ihrem Auto von Walle nach Aurich oder zurückfuhr. Sie nahm unweigerlich das Private mit zum Dienst. Und brachte von ihrer Arbeit ein Stück Mord und Totschlag mit in die eigenen vier Wände. Es würde schwerer werden, als sie es sich vorzumachen versucht hatte.
Emil streckte die Hände nach ihr aus und schob sich von einem Arm auf den nächsten. Sie küsste ihren Sohn auf beide Wangen.
«Du siehst aus, als könntest du einen Kaffee vertragen», sagte Anivia und ging, ohne eine Zustimmung abzuwarten, durch die Terrassentür ins Haus. «Setz dich ruhig in den Garten, ich bringe unsere Tassen nach draußen», rief sie noch mit ihrem reizvollen osteuropäischen Akzent in der Stimme.
Wencke folgte der Aufforderung gern. Der Sitzplatz im kleinen Garten war windgeschützt, und in der schon tiefer stehenden Maisonne war es sommerlich warm. Emil blieb nur zu gern auf ihrem Schoß und plapperte ununterbrochen. Wencke streichelte seine dünnen, blonden Haare und tat so, als könne sie sein Kauderwelsch verstehen. Doch eigentlich war sie in Gedanken noch nicht wirklich hier.
Anivia kam wieder aus dem Haus, reichte ihr einen Kaffeebecher, aus dem appetitlicher Milchschaum hervorquoll, und setzte sich neben sie.
«Wencke, brauchst du mich heute Abend zum Aufpassen?»
«Nein, du hast frei. Ich bin wirklich k.o. Nach dem Abendessen werde ich mich aufs Sofa legen und nie wieder aufstehen.»
Anivia freute sich augenscheinlich. «Das ist gut. Ich bin nämlich auf eine Party eingeladen.»
«Soll ich dich mit dem Auto irgendwo hinbringen? Axel ist ab acht Uhr da und könnte auf Emil aufpassen.»
«Nein, nicht nötig. Es ist nicht weit weg, in Moordorf. Ich nehme das Fahrrad.»
«Oh, eine Geburtstagsfete, oder was?»
«Nein. Es ist die Abschiedsparty von einem Jungen aus meinem Sprachkurs.»
Wencke schluckte an ihrem Milchkaffee. Er war gut, frisch gebrüht, zig mal besser als die Brühe im Büro, dennoch schmeckte er in diesem Moment scheußlich bitter. «Aurel Pasat?», fragte sie knapp.
«Du kennst ihn?», wunderte sich Anivia.
Wencke gab nur ein ernstes Nicken als Antwort. Sie fühlte sich überfahren. Eben noch hatte sich für einen kurzen Moment etwas Harmloses und Normales in ihre Stimmung eingeschlichen, Terminabsprachen und Fahrgelegenheiten, so alltäglich – und jetzt das.
Anivia kannte den toten Rumänenjungen. Sie hatte mit ihm denselben Sprachkurs besucht. Der Fall Aurel Pasat schlich sich von allen Seiten in Wenckes heile Welt. Sie schwieg.
«Wencke?», hakte Anivia nach. «Woher kennst du Aurels Namen?» Und als immer noch keine Antwort kam, fragte Anivia zögernd: «Kennst du ihn von deiner Arbeit? Hat er etwas … Verbotenes gemacht?»
«Würde das zu ihm passen?», gab Wencke zurück.
Anivia überlegte nur kurz, dann schüttelte sie energisch den Kopf. «Er ist ein netter Kerl. Ich glaube nicht, dass er kriminelle Sachen macht. Auch wenn ich von Rumänen sonst eine andere Meinung habe. Alles Zigeuner!»
Dies war auch eines der Dinge, an die Wencke sich bei ihrem Au-pair-Mädchen gewöhnen musste: dass sie keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen bestimmte Völker machte. Die junge Frau war im kriegszerrütteten Serbien groß geworden, lebte normalerweise mit ihrer gut situierten Familie in der Provinz Vojvodina, die als ethnischer Schmelztiegel auf dem Balkan gilt. Hier waren Hasstiraden auf andere Völker mehr als normal, gehörten sogar beinahe zum «guten Ton». Sie schimpfte leidenschaftlich auf die Roma, wunderte sich, dass der Begriff «Zigeuner» in Deutschland als abwertend galt, und vor allem, dass sich an ihrer Abwertung Leute störten. Es machte keinen Sinn, mit Anivia darüber zu diskutieren, die Sprachkenntnisse der jungen Frau schrumpften dann augenblicklich zu einem Nichts zusammen. Deswegen räusperte sich Wencke nur kurz, obwohl ihr die Ansichten nicht gefielen. Es erschien ihr wichtiger, etwas über Aurel Pasat in Erfahrung zu bringen.
«Was ist denn nun mit ihm?», fragte Anivia erneut.
«Du weißt, dass ich bei der Mordkommission arbeite?»
Anivia ließ die Kaffeetasse langsam sinken. «Ist er tot?»
Wencke nickte. «Er hat sich allem Anschein nach das Leben genommen.»
Die Augen des Au-pair-Mädchens blickten groß und ungläubig. «Aber warum?»
«Wir wissen es nicht genau. Wahrscheinlich, weil er nicht in seine Heimat zurückkehren wollte.»
Emil kletterte von Wenckes Schoß und krabbelte um ihre Beine herum. Wie gut, dass er
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