Das Sonnentau-Kind
hier, sie hatte mit Axel Sanders getauscht, der bis zu ihrer vollständigen Rückkehr ins Berufsleben ihren Posten und somit auch ihr Arbeitszimmer übernommen hatte.
Axel Sanders war einer der korrektesten Menschen, die Wencke kannte, ein krawattentragender Besserwisser und eiserner Verfechter der Dienstvorschriften. Meint Britzke und die anderen Kollegen stöhnten unter der Last seines strengen Regiments und freuten sich schon auf den Tag, an dem Wencke wieder vollständig in den Beruf zurückkehren und die Dienststelle mit ihrer unkonventionellen Art leiten würde.
Das Ganze war schon eine merkwürdige Situation, schließlich herrschte zwischen ihr und Axel Sanders seit Ewigkeiten ein beruflicher Konkurrenzkampf, während sie sich privat immer mehr angenähert hatten und nun schon seit einiger Zeit unter demselben Dach lebten. Selbst den Umzug nach Emils Geburt hatte Axel mitgemacht, es hatte nie zur Debatte gestanden, dass er nicht mit Wencke und dem Kind aufs Land in das kleine Einfamilienhaus westlich von Aurich ziehen würde. Warum auch nicht? Sie verstanden sich gut, wenn es um den Einkauf, die Zahlungen an die GEZ oder die Pflege des Gartens ging.
Endlich schoben sich die Autos auf der Bundesstraße weiter voran. Zu gern hätte Wencke das Fenster heruntergekurbelt, doch vor ihrem Passat bliesen gleich zwei Traktoren Biodiesel in die Gegend. Die moderne Variante der gesunden Landluft, dachte Wencke und hielt den Atem an. Dann bog sie rechts ab, der Wagen hoppelte über die rostigen Gleise der vor Jahren stillgelegten Bahnstrecke Emden-Aurich und gelangte über die hundertfach geflickte Landstraße nach Walle, dem kleinen, gemütlichen Vorort, wo Wencke nun seit gut einem halben Jahr lebte. Nur zwei Kurven, dann am Sportplatz noch ein Stück geradeaus, schließlich bog sie auf die Auffahrt des kleinen Häuschens.
Alles schien in Ordnung zu sein. Wencke ärgerte sich über diesen Gedanken, warum sollte es auch nicht in Ordnung sein? Was hatte sie erwartet? Einen Wasserrohrbruch? Einen Brandschaden? Ein Erdbeben? Oder was?
Das rote Haus, eingeschossig mit hölzernen Sprossenfenstern, moosigen Dachziegeln und dem Charme der bescheidenen frühen 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts – das war doch friesische Idylle pur. Aber war der Heiliger-Hof das nicht auch?
Wencke ging an der Garage vorbei hinter das Haus. Emil spielte im Sandkasten vor dem Wohnzimmerfenster und ließ sich durch ihr Erscheinen nicht beirren. Anivia saß daneben im Gartenstuhl und kaute konzentriert auf einem Stift, anscheinend paukte sie für ihren Sprachkurs. Sie war nett, fast zwei Köpfe größer als Wencke, schwarzhaarig und gertenschlank. Zuerst hatte sich Wencke an das Mädchen aus Serbien gewöhnen müssen: Sie trank nur Cola, schaute für ihr Leben gern Telenovelas und MTV, liebte Techno und hatte keine Meinung zu Politik, Umweltschutz oder sonst irgendetwas Weltbewegendem. In Serbien hatte sie beim Zoll gearbeitet und zudem vier Semester Germanistik studiert, den charmanten Wortwitz hatte sie sich jedoch beim Lesen deutscher Lifestyle-Magazine angeeignet. Anivia war also über ihren Kindermädchenjob hinaus eine nette Gesprächspartnerin, die Au-pair-Zeit wollte sie dazu nutzen, ihr Schriftdeutsch zu verbessern. Über den Deutschkurs hatte Anivia bereits einige Kontakte geknüpft, und am Wochenende fuhr sie mit dem Fahrrad in die Diskothek nach Georgsheil, selbstverständlich in Minirock und hochhackigen Schuhen.
Emil liebte sein Kindermädchen. Also war eigentlich alles in Ordnung. Schon wieder dieser Gedanke. Wencke räusperte sich und winkte Emil zu, der nun endlich in ihre Richtung guckte und nach wenigen Sekunden seine Mutter erkannte. Sein Kindergesicht verzog sich zu einem unbeschreiblichen Lächeln, er zeigte dabei seine beiden unteren Zähne.
«Hallo, ihr beiden. Alles okay?» Es hatte sich nicht vermeiden lassen, diese Frage zu stellen.
«Bei uns ja!» Anivia erhob sich, nahm Emil auf den Arm und kam auf sie zu. «Aber du siehst nicht gut aus. Probleme auf der Arbeit?»
Und erst jetzt verstand Wencke, warum sie sich so gesorgt hatte, warum sie sich immer und immer wieder davon überzeugen musste, dass hier zu Hause alles seinen Gang ging. Es lag an ihr selbst und dem, was sie heute gesehen hatte. An diesem Fall mit dem toten Jungen aus Rumänien, der dem Leben noch so nah gewesen zu sein schien. An der Demontage der Idylle auf dem Heiliger-Hof.
Es war nicht so, wie sie insgeheim gehofft hatte: Es gab keinen
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