Das Sonnentau-Kind
bevor Ende des Jahres sein Einsatz hier beendet war.
«Ich habe gehört, im Moor gibt es auch Schlangen?», sagte eine der wenigen mitgereisten Frauen, zupfte ihn am Anorakärmel und schaute wissbegierig zu ihm auf.
Jakob Mangold brauchte einen Moment, bis er wieder in seinem Element war. «Kreuzottern», bestätigte er dann. «Ich habe aber noch keine entdeckt.»
Die Frau schien ein wenig enttäuscht.
«Gehen wir weiter?», forderte Jakob die Gruppe auf. «Wir begeben uns nun ins Flachmoor. Sie werden staunen, wie unterschiedlich diese beiden Moorgenerationen sind.» Er lief weiter in Richtung See, und die Rentner folgten ihm. Seine Stiefel streiften die maisgelben Gräser am Rande des Trampelpfades, während er Dutzende von Fragen beantworten musste.
Noch zwanzig Minuten, dann war endlich Feierabend. Er war heute Morgen schon früh wach gewesen, die ersten Zählungen wurden stets bei Sonnenaufgang gemacht. Und dies war jetzt die letzte Aufgabe des Tages gewesen. Wahrscheinlich würde er sich gleich eine Pizza in den Ofen schieben und anschließend ein Nickerchen auf dem Sofa machen. Ob er dann noch losging, wusste er selbst nicht genau.
Heute Abend war er auf diese Party eingeladen. Im Heiliger-Hof. Wie paradox, dachte er. Eine Abschiedsparty, auf der man jemanden wiedersehen würde, den man jahrelang vergessen wollte.
B 72 von Aurich nach Moordorf
in einem sehr alten Passat Kombi
stop and go
Es gab Stau am Ortsausgang. Feierabendverkehr in Ostfriesland und Wencke mittendrin. Sie war nicht froh, schon wieder nach Hause zu fahren. Obwohl sie sich auf Emil freute. Doch es war so unbefriedigend.
Das kurze Gespräch mit dem immer noch weinenden und zwischen den Sätzen schluchzenden Dienstmädchen Mandy hatte nichts gebracht außer der erneuten Bestätigung, dass Aurel Pasat ein liebenswerter Mensch gewesen war. Ein netter Kollege, ein hübscher Kerl, ein fröhliches Gemüt, im Prinzip das Leben pur.
Auch im Polizeibüro waren sie nicht besonders weit gekommen. Gut, sie hatten herausgefunden, dass sich hinter der Adresse auf dem Kofferanhänger die Zentrale eines Lernprojektes in der rumänischen Stadt Arad verbarg. Das Internet verriet, dass der Ort in der Nähe der ungarischen Grenze in einem Bezirk namens Banat lag. Wie in allen Städten des Landes herrschten auch dort chaotische Zustände. Die Bilder auf dem Display zeigten graues Industriegelände, tristen Klassizismus zwischen lieblosen Zweckgebäuden, Müll auf den Straßen, streunende Hunde und Kinder. Die meisten Internetseiten, die die Suchmaschine beim Begriff Arad ausspuckte, bezogen sich auf westliche Hilfsprojekte, die versuchten, die Stadt etwas lebenswerter zu machen. Auch über die Sozialstation Prim ặvarặ, welche Aurel Pasat als seine Heimatadresse angegeben hatte, erfuhr man einiges. Eine deutsche Stiftung, die Pädagogen und Sozialarbeiter nach Rumänien geschickt hatte, um dort den Straßenkindern Lesen und Schreiben beizubringen. Leider meldete sich niemand am Telefon, Meint Britzke hatte es mehrmals hintereinander versucht und bis zum Ende durchklingeln lassen. Doch niemand hatte abgenommen, oder aber – auch gut möglich – das rumänische Telefonnetz war nicht zuverlässig. Irgendwann hatten sie es aufgegeben und sich vorgenommen, morgen noch einmal dort anzurufen.
«Ich mach dann mal Feierabend», hatte Wencke schließlich gesagt, und Meint hatte demonstrativ auf die Uhr geschaut und gemurmelt, wie gut sie es habe, so entgehe sie der von Axel Sanders angesetzten Dienstbesprechung. Er könne gern mit ihr tauschen, sagte Wencke, sie würde lieber noch die ersten Berichte aus der Rechtsmedizin abwarten und vielleicht noch diese Annegret Helliger auf ein kleines Verhör in ihrem Atelier besuchen.
Einfach die Arbeit liegen lassen und gehen, das war nicht gerade ihr Ding. Zudem wartete auf sie jetzt wahrscheinlich ein quengelndes Kind und ein überarbeitetes Au-pair-Mädchen. Und Axel Sanders hatte sie ab 20 Uhr ohnehin bei sich zu Hause.
Meint Britzke hatte mitleidlos den Kopf geschüttelt, ihren Mitbewohner habe sie sich schließlich selbst ausgesucht, keiner der Kollegen könne ihre Wahl nachvollziehen.
Wenckes Blick hatte noch einmal kurz und gedankenverloren die ziemlich unaufgeräumte Fläche ihres Schreibtisches gestreift. Sie hatte sich schon einmal das Büro mit Meint geteilt, bevor sie vor fünf Jahren die Leitung der Polizeidienststelle in Aurich übernommen und einen eigenen Raum bezogen hatte. Nun saß sie wieder
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