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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Luepkes
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von der Anspannung dieses Momentes nicht allzu viel mitzubekommen schien. Er griff sich eine knallblaue Plastikschaufel und klopfte damit begeistert gegen das hölzerne Tischbein.
    «Wie gut kanntest du Aurel?»
    «Gut genug, um zu wissen, dass er sich nicht das Leben genommen hat. Aber leider zu schlecht, um dir zu sagen, was sonst passiert sein könnte.»
    «Hast du mal mit ihm gesprochen? Über persönliche Dinge, meine ich.»
    Anivia senkte den Kopf. In ihren Schrecken schien sich so etwas wie Verlegenheit zu mischen. Wencke konnte sich denken, was das bedeuten mochte: Anivia hatte ein wenig für den Jungen geschwärmt, vielleicht waren die persönlichen Dinge so persönlich, dass es ihr nun schwerfiel, Wencke beim Reden in die Augen zu blicken.
    «Ich bin doch erst ein paar Wochen hier, darum habe ich ihn nicht so richtig … na ja, so richtig kennengelernt. Obwohl wir beide uns auch in der Muttersprache unterhalten konnten.»
    «Du sprichst Rumänisch?»
    «Zumindest kann ich es verstehen. In meiner Heimat leben viele Rumänen, in der Vojvodina ist Rumänisch eine der offiziellen Sprachen, zusammen mit Serbisch, Ungarisch, Slowakisch und Kroatisch. Aurel und ich haben uns manchmal einen Witz daraus gemacht und in unserer Sprache gequatscht, damit die anderen Leute im Kurs nichts verstanden und neugierig wurden.»
    «Ihr habt geflirtet?»
    Tatsächlich wurde Anivia leicht rot im Gesicht. «Nur ein bisschen. Aber …» Sie stockte wieder.
    «Ja?»
    «Er hat sich auf zu Hause gefreut. Auch wenn er gern in Deutschland war, er hat mir gesagt, dass er seine Familie vermisst. Und seine Freundin.»
    «Er hatte eine Freundin?»
    «Ja. Er hat nicht viel von ihr erzählt, aber er zeigte mir ein Foto von ihr. Sie sah aus wie ein kleiner Junge, darüber habe ich mich gewundert, doch vielleicht war das eine alte Aufnahme, keine Ahnung. Er hat über das Bild gestreichelt und gesagt, er wisse, sie könne es kaum erwarten, ihn vom Bahnhof abzuholen.»
    «Hat er ihren Namen genannt?»
    «Ja. Ich glaube, sie heißt Teresa.»
    «Und was hat er dir über seine Familie erzählt? Wir haben bei ihm nämlich lediglich die Adresse einer Schuleinrichtung gefunden. Bei seiner deutschen Gastfamilie hat er nie etwas über seine Eltern erzählt. Vielleicht weißt du in diesem Fall mehr als wir.»
    «Er hat gesagt, er müsse hier in Deutschland etwas klären. Für seine Familie. Und dass er sich freue, denn wenn er nach Arad zurückkäme, wäre alles in Ordnung.»
    «Das hat er gesagt?» Wencke lehnte sich auf dem Gartenstuhl zurück und schloss die Augen. Es gab nicht viel zu deuteln: Aus dem, was Anivia ihr da gerade erzählte, konnte man nicht auf einen lebensmüden, verzweifelten Selbstmörder schließen. Und auch Sebastian Helliger hatte indirekt seine Zweifel am Suizid geäußert. Und ihre Intuition, diese Sache mit dem kratzigen Strick, sprach auch dafür, dass …
    Mensch, zum Teufel mit dem Gefühl. Jetzt war Feierabend. Ihr Sohn brauchte Aufmerksamkeit, Zuneigung, mütterliche Streicheleinheiten. Und sie investierte ihre Gefühle in Mutmaßungen über den Tod eines Fremden. Aber vielleicht lag in Aurich inzwischen schon ein Bericht der Rechtsmedizin vor, aus dem eindeutig hervorging, wie und wann Aurel Pasat dort in diesem düsteren Schuppen …
    «Wencke?», unterbrach Anivia ihren Gedankengang. «Emil und ich kommen hier auch ganz gut allein zurecht. Meinst du nicht, du solltest nochmal …»
    «Zur Arbeit?»
    «Bist du nicht sowieso die ganze Zeit dort geblieben?»
    Wencke schaute schuldbewusst zu Anivia. Erst jetzt registrierte sie, dass Emil es sich inzwischen wieder auf dem Schoß seines Kindermädchens bequem gemacht hatte. Sollte sie sich darüber freuen – oder verärgert, gekränkt, eifersüchtig sein?
    «Fahr schon los», sagte Anivia. «Ich bleibe dann ja sowieso heute Abend zu Hause. Und mir wäre es ebenfalls wichtig, herauszufinden, was mit Aurel passiert ist. Also …»
    Wencke fühlte den Autoschlüssel in der Hand. Sie trank den guten Kaffee auf einmal und erhob sich von ihrem wohligen, von der Feierabendsonne beschienenen Platz.

Polizeirevier Aurich, Sitzungsraum schlechte Luft und schlechte Stimmung
    «Ja, wen haben wir denn da?»
    Das hatte Axel Sanders eigentlich gar nicht so aussprechen wollen. Es war ihm herausgerutscht, und er ahnte, dass Wencke ihn noch heute Abend dafür büßen lassen würde. Doch er hatte sich gewundert, als mitten in der Teambesprechung am Ende des länglichen Raumes die Tür aufging

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