Das Sonnentau-Kind
Ewigkeit, diese Erfahrung haben wir zumindest schon mehr als einmal gemacht, wenn einer von den Kleinen nicht mehr aufgetaucht ist. Aber bei einem deutschen Sozialarbeiter werden sich die Behörden mit Sicherheit mehr anstrengen als bei einem drogenabhängigen Straßenkind.
Und wenn sie den Toten entdecken und Victors und Iancus Geschichte gehört haben, bin ich dran. Sie sind nicht zimperlich, wenn sie uns erst einmal in den Fingern haben.
Alexandru, der vor seinen Eltern davongelaufen ist und eher versehentlich in den Bergen der Maramures in Grenznähe gelangte, ist noch so klein. Aber er hat erzählt, dass er, nachdem sie ihn erwischt haben, zwei Tage und zwei Nächte lang im Büro des Polizeichefs stehen musste, barfuß, nur alle drei Stunden einen Becher Wasser und etwas Brot, und wenn er vor Müdigkeit oder Erschöpfung umgekippt ist, haben sie ihn geschlagen. Da ist er dann lieber stehen geblieben. Flüchten konnte er erst, als sie ihm die verdreckte Hose ausgezogen haben und er sie nackt im Hof in einer Pfütze auswaschen musste. Es war November, glaube ich, er hat sich die Finger blutig geschrubbt, aber das Schlimmste waren die Kälte und die Angst, hat er gesagt. Als sich die beiden Polizisten, die ihn beobachten sollten, gerade um einen Besen stritten, mit dem er – immer noch unbekleidet – den Parkplatz fegen sollte, ist er abgehauen. Es grenzt an ein Wunder, dass sie ihn nicht eingefangen und fertiggemacht haben. Schließlich war er in ihren Augen nicht nur ein Verbrecher, da er ihrer Auffassung nach illegal das Land verlassen wollte, er war auch ein Zeuge, was die Vorgänge in der Polizeibehörde betraf. Alexandru weiß ja nicht, dass es eigentlich verboten war, wie sie mit ihm umgegangen sind. Er denkt noch immer, die Männer in den Uniformen wissen schon, was sie dürfen und was nicht. Aber den Wächtern muss bei seiner Flucht schon klar gewesen sein, wenn Alexandru den falschen Menschen von den Misshandlungen berichtete, könnte es unangenehm werden. Gott sei Dank war er schneller als sie gewesen.
Doch das, was er erzählt hat, macht mir natürlich schon Angst. Ich bin acht Jahre älter als Alexandru, ich bin ein Mädchen – auch wenn man mir das mit den kurzen Haaren zum Glück nicht mehr ansieht –, und ich habe einen Mord begangen. Wenn die mich jetzt hier auf der Straße aufgabeln, stellen die ganz andere Sachen mit mir an, so viel steht fest.
Doch ich gehe weiter. Ich muss es nach Ungarn schaffen. Und von dort nach Deutschland. Und dann? Wie weit ist es nach Moordorf? Ich habe keine Vorstellung.
Ich weiß nur, dass ich zu dir muss, Aurel. Du bist der Einzige, der mir jetzt helfen kann. Normalerweise ist ja das Prim ặvarặ eine Anlaufstelle, wo man Hilfe suchen kann, wenn es ganz schlecht steht. Wenn man beim Klauen erwischt wurde oder verletzt ist. Doch ich habe ausgerechnet einen der Lehrer ermordet. Aber war es Mord? Ich habe mal gehört, dass es einen Unterschied gibt zwischen «aus Versehen» und «mit Absicht». Aber solche Regeln gelten ja nicht für uns. Also bleibt mir hier in Rumänien kein Mensch. Du bist der Einzige, der sich noch für mich starkmachen würde. Ich muss zu dir gelangen, bevor du deine Rückreise antrittst. Dann habe ich eine Chance.
Ein Lkw nähert sich von hinten. Das Licht seiner Scheinwerfer zeichnet meinen Schatten lang auf die Straße, ich spüre das Vibrieren des Asphalts unter meinen Fußsohlen. Ohne mich umzudrehen, halte ich den Daumen von mir und gehe weiter. Ich denke, es ist eh umsonst. Ich denke, der fährt sowieso an mir vorbei, ohne auch nur eine Winzigkeit langsamer zu werden, doch das Brummen hinter mir nähert sich nur zögernd, ein kurzes, schneidendes Hupen lässt mich zusammenzucken.
«Hey, Junge!», sagt der Mann, nachdem er seinen Lastwagen zum Stehen gebracht und die Scheibe an der Beifahrerseite heruntergekurbelt hat. Er ist etwas dicker und hat große Warzen im Gesicht, sein kariertes Hemd ist an den Armen hochgekrempelt, auf seine Handrücken sind Blumenranken tätowiert. Er sieht nicht gefährlich aus. «Wenn du willst, nehme ich dich ein Stück mit. Über die Grenze kann ich dich aber nicht schmuggeln, falls du das vorhast.»
Er öffnet mit einem Ruck die Tür, und ich zögere wirklich nur ganz kurz, ehe ich mich die drei steilen Stufen hinauf in das Fahrerhaus ziehe. Die Sitze sind ausgeleiert, und einige Federn drücken in meine Oberschenkel. Er fährt sofort los und zündet sich während des Schaltens einen dicken
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