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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Luepkes
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Das ist etwas, was man sich nicht abgewöhnen kann, selbst wenn man sein ganzes Leben auf der Straße verbracht hat. Dass man Angst kriegt, wenn einer kommt, mitten in der Nacht, ein Erwachsener.
    Ich höre den Typen direkt vor der löchrigen Holztür, wir sind nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Er atmet schwer und heftig, er scheint erregt zu sein. Was verspricht er sich davon, wenn er die Tür öffnet? Was will er hier? Es gibt Männer, die klauen Kinder, so wie die Kinder am Bahnhof Handtaschen klauen. Und sie stellen mit ihrem Diebesgut ähnliche Sachen an wie die kleinen Taschendiebe: Sie drehen das Innerste nach außen, entnehmen alle wertvollen Dinge und werfen das, was wertlos ist, in den Müll. Niemand kann nachvollziehen, nach welchen Gesichtspunkten sich die Kinderdiebe ihre Beute aussuchen. Manchmal sind es hübsche Mädchen wie Gabrielà, manchmal fast erwachsene Jungs, wie László einer gewesen ist, manchmal sind es aber auch die schwächsten, die hässlichsten und kränksten unter ihnen. So wie Ladislaus damals. Kinder wie Schatten, leicht und mehr tot als lebendig. Die werden auch gestohlen, mitten in der Nacht, von erwachsenen Männern, die sich an die Gruppe heranschleichen.
    Was soll ich nur tun? Ich bin für die Gruppe verantwortlich.
    Ich suche in der Hosentasche mein Messer. Als ich den Hebel betätige, springt es auf, irgendwie abenteuerlustig. Als könnte es kaum erwarten, dem Fremden an die Kehle zu rutschen. Ich will eigentlich kein Abenteuer, ich hätte lieber geschlafen. Aber wenn es um meine Familie geht, bleibe ich wach. Hellwach.
    Der kleine Alexandru ist aufgeschreckt. Wahrscheinlich hat er gemerkt, dass niemand mehr neben ihm liegt. Er reibt sich die Augen und jammert ein bisschen.
    «Pssst!», zische ich. Er darf uns nicht verraten. Auch wenn wir zu dritt sind, einen Erwachsenen kann man nur überwältigen, wenn man ihn überrascht. Wenn man ihn gleichzeitig von hinten und vorn überrumpelt und dabei ein scharfes Messer im Anschlag hat.
    Jetzt drückt sich die Klinke nach unten. Ich kann nur hoffen, dass Victor inzwischen um das Haus gegangen ist und das Ganze von der Straße aus im Blickfeld hat. Ich gehe langsam und auf Zehenspitzen zwei Schritte nach hinten, damit sich die Tür öffnen lässt. Es ist so weit, die Sekunde kommt, die richtige Sekunde, um zuzuschlagen. Iancu schießt nach vorn und greift den rechten Arm des Fremden. Victor ist da, er packt den Riesen um die Taille. Und ich springe. Ich sehe ein schwaches Licht in den weit aufgerissenen Augen des Angreifers blitzen. Mein Gott, er hat Angst, er hat genauso viel Angst wie wir. Doch es ist zu spät. Die Klinge meines Messers sitzt an seinem Hals, für Feingefühl fehlt die Zeit, ich habe ihn schon geschnitten. Blut läuft über meine Finger. Er röchelt flach, weil ich ihm die Waffe so eng an die Gurgel drücke und er instinktiv weiß, dass er tot ist, wenn er atmet. Der Pulsschlag neben meinem Griff wird sichtbar, immer schneller pocht es unter der Haut des Mannes.
    Wir sind leise. Selbst Alexandru, der ja eben noch wach gewesen ist, dreht sich nicht zu uns um. Die Zeit verrinnt nur langsam. Ich glaube fast, für diesen Kerl ist es nicht anders. Er glaubt, er muss sterben. Und wahrscheinlich hat er recht.
    «Was willst du hier?», frage ich. Aber er kann nicht antworten. Er muss schweigen. Es ist dunkel, doch als Victor mit dem Fuß die Tür weiter aufschiebt, fällt etwas Mondlicht auf das Gesicht, dem die Panik anzusehen ist. Ich kenne diesen Mann. Woher? Immer wieder bleibt die Erinnerung stecken. In meinem Kopf hat das verfluchte Aurolac schon alles verklebt. Es will mir nicht einfallen. Woher kenne ich diesen Mann? Er wird immer schwerer, langsam sackt er nach unten. Iancu und Victor wollen ihn oben halten, aber er ist dick, nicht mehr zu halten, er rutscht ihnen aus den Händen. Ich will das Messer wegziehen, ich will es wirklich, denn in dem Moment, als ich das Gesicht erkannt habe, weiß ich, er ist kein Kinderdieb. Er hat sich nicht in der Nacht zu uns geschlichen, weil er einen von uns rauben wollte. Er ist ein guter Mann. Doch er fällt nach vorn. Scheiße, er fällt mir genau in die Klinge, ich kann meinen Arm nicht schnell genug nach hinten nehmen. Meine Bewegung macht alles nur noch schlimmer. Sie schneidet einen großen Spalt in den Mann. Es ist nicht zu verhindern. Er liegt mit seinem ganzen Körpergewicht auf meinem Messer, fällt immer weiter zu Boden, ich weiche zurück und schlitze ihm

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