Das Sonnentau-Kind
will endlich Arbeit finden. Ich erzähle von dir, Aurel, meinem Freund, der es bis nach Deutschland geschafft hat. Und der mir versprochen hat, dass ich in einem Restaurant arbeiten kann, als Spülhilfe, in einem schicken deutschen Restaurant. Dies sei meine einzige Chance. Und ich würde doch so gern etwas verdienen, das Geld nach Hause schicken, vielleicht kann man Ladislaus helfen, irgendwie operieren, keine Ahnung. Dann könnte meine Mutter auch wieder arbeiten gehen und meine anderen Geschwister versorgen. Alles würde besser werden, wenn ich nur nach Deutschland käme. Zu meinem Freund Aurel. Ich weine etwas verzweifelt, das fällt mir nicht schwer, denn verzweifelt bin ich wirklich. Auch wenn vom Rest der Geschichte nur die Hälfte stimmt. Doch die Tränen zeigen Wirkung. Er fährt langsamer.
«Wir sind nur noch ein paar Minuten von der Grenze entfernt», sagt er schließlich. «Rumänien will bald zur EU gehören. Die sind jetzt etwas lockerer geworden. Und nachts sind sie meistens nicht ganz so wachsam.» Den letzten Satz hat er, glaube ich, mehr zu sich selbst gesagt, doch nun wendet er sich an mich. «Mach dich dünn und verkriech dich im Fußraum.»
«Nicht die Ladefläche?», frage ich.
«Nein, dort suchen sie zuerst. Aber kein Mensch wird denken, dass sich ein Flüchtling unter dem Beifahrersitz verkriecht. Das Versteck ist so schlecht, dass es schon wieder gut ist.»
«Und wenn sie mich doch entdecken?»
«Dann werde ich behaupten, du seiest bei meiner letzten Rast unbemerkt ins Fahrerhaus gestiegen. Das ist auch glaubwürdiger, als das sich ein junger Kerl wie du in den verriegelten Laderaum schmuggelt, dort kommt man nämlich nicht so einfach rein. Ich werde so tun, als hätte ich überhaupt keine Ahnung. Dir kann ich dann nicht mehr helfen, dann muss ich nur meine eigene Haut retten. Schon wegen meiner Familie …»
«Ist schon klar!»
«Ich werde dich dann treten und beschimpfen müssen, damit sie mir glauben.»
«Das darfst du.»
Er schaut nur kurz zur Seite, dann wieder geradeaus. Die Geschwindigkeit nimmt er nicht weiter zurück, wir nähern uns der Grenze, von weitem sind die mit hellen Scheinwerfern beleuchteten Wachtürme mit den Flaggen zu erkennen. «Duck dich jetzt. Und mach dich unsichtbar!»
Ich folge ihm, drücke mich fest in die enge Nische, ziehe meinen dunklen Pullover an den Leib, versuche, das Atmen zu lassen. Onkel Casimir greift nach hinten, holt den Rucksack aus dem Raum, in dem auch die Nachtpritsche ist. Er stellt das klobige Gepäckstück vor meine Nase. Vielleicht bin ich jetzt wirklich unsichtbar. Er fährt langsamer, der Lastwagen zischt, als er die Gänge nach unten schaltet. Ich sehe durch einen Spalt, dass er schwitzt.
«Ich muss verrückt sein», zischt er.
«Du bist der mutigste Mensch, den ich je getroffen habe», sage ich. Und es ist der erste Satz, den ich an ihn richte, in dem ich keine Lüge verwoben habe.
Wir halten an. Er kurbelt das Fenster runter. Kalte Luft und etwas Helligkeit dringen bis zu mir.
«Bin auf dem Weg nach Prag», sagt er.
«Und? Was hast du geladen?», fragt ein Mann mit starkem ungarischem Akzent.
«Die ganze Ladefläche voller schöner Mädchen», sagt er und lacht schallend. Ich höre die fremde Stimme, sie verfällt ebenfalls in ein Lachen. Onkel Casimir zündet sich einen neuen Zigarillo an, ich rieche den Qualm bis hier unten. Er stellt den Motor ab. Und steigt aus.
Mein Herz hat noch nie so geschlagen.
Emils Kinderzimmer bunt
Es summte und summte und summte. Niemand nahm ab.
Wencke wechselte das Telefon von der linken auf die rechte Schulter und klemmte es mit dem Kinn in eine stabile Position, denn sie wollte die Hände frei haben, um den heute gar nicht so zufriedenen Emil zu wickeln. Es war bereits zehn nach zehn, und Wencke musste gleich ins Büro. Aber sie hätte zu gern vorher mit Roland Peters, besser noch mit dieser Teresa gesprochen. Wencke ahnte, dass der Inhalt des Briefes, den Aurel Pasat an seine Freundin in die Heimat geschickt hatte, sie ein großes Stück weiterbringen könnte. Und wenn sie nun nichts darüber erfuhr, würde sie gleich Axel Sanders und den anderen gegenübertreten und wäre genau so schlau wie bei ihrem gestrigen Zusammentreffen im Sitzungszimmer.
Und das war alles andere als optimal, wenn sie ihre Kollegen davon überzeugen wollte, dass Aurel Pasat sich nicht das Leben genommen hatte. Dass er dazu viel zu lebendig gewesen war. Auch wenn die Alternative zum Suizid dann Mord hieß.
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