Das Sonnentau-Kind
Zigarillo an. Er erinnert mich an einen Onkel, den ich immer gern gemocht habe. Damals, in meinem anderen Leben. Onkel Casimir. Ich nenne ihn jetzt einfach in Gedanken so, diesen wildfremden Lastwagenfahrer, denn dann habe ich weniger Angst, dass er mir etwas antut.
Onkel Casimir fährt schnell und schweigt dabei. Zum Glück stellt er keine Fragen.
Ich schaue aus dem Fenster. Noch nie bin ich in einem so großen Wagen gefahren. Man sitzt so hoch, dass es einem vorkommt, als fliege man, als habe die Straße da unten gar nichts mit einem zu tun.
Hinten erkenne ich noch die letzten Häuser von Arad, das erste frühe Licht klettert gerade über die Dächer. Ich denke über diese Stadt nach, in der ich lebe oder zumindest bis eben gelebt habe. Die Stadt, in der meine Freunde zu Hause sind. In der ich dich, Aurel, vor einigen Jahren kennengelernt habe. Arad hat viele Gesichter. Ein schönes, prächtiges Rathaus, in dem ein eifriger und optimistischer Bürgermeister sitzt. Und nicht weit davon entfernt liegen im Schmutz die Baracken von Khekheci, wo ich geboren wurde und wo meine Mutter wahrscheinlich noch immer irgendwo haust.
Ich weiß nicht viel über mein Land und warum es so geworden ist, wie es ist. Wenn ich von den Prim ặvarặ- Leuten und dir nicht wüsste, dass es auf der Welt auch ganz anders zugehen kann, dann würde ich mir wahrscheinlich in diesem Moment gar nicht den Kopf darüber zerbrechen.
Mir hat mal jemand erzählt, dass Rumänien über viele Jahre von einem Mann regiert wurde, der geisteskrank gewesen sein muss. Er soll in der Hauptstadt einen ganzen Stadtteil dem Erdboden gleichgemacht haben, um dort den größten Palast der Erde zu erbauen. Das «Haus des Parlaments» soll es heißen, doch die Bevölkerung nennt es nur das «Haus der verlorenen Schritte». Ich habe gehört, allein im zweiten Stockwerk befinden sich 450 riesige Räume, Marmor und Nussholz und alle Schätze Rumäniens sind dort verbraucht worden. Der Präsident soll jeden, der sich ihm in den Weg gestellt hat, ermordet haben. Und all das Geld, welches dem Land gehörte, ist in seine Hände gelangt und verprasst worden.
Deswegen gäbe es nun so viele Kinder wie mich, die auf der Straße leben, die vor ihren Eltern geflüchtet sind, weil die trinken und schlagen oder einfach nichts zu essen haben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es diesen schrecklichen Mann einmal gegeben haben soll und dass es einem einzelnen Menschen tatsächlich gelungen ist, ein ganzes Land kaputtzukriegen. Jetzt ist er schon lange tot, sie haben ihn ermordet, ihn und seine ganze Familie. Aber die Wunden, die er hinterlassen hat, heilen durch seinen Tod nicht schneller.
Nicht weit von hier entfernt, es sind nur noch wenige Kilometer bis Ungarn, da funktioniert alles viel besser. Da stehen keine zerstörten Fabriken unbrauchbar in der Gegend rum. Da wächst auf den Feldern nicht der zerfledderte Mais vor sich hin. Ich glaube, schon in Ungarn beginnt das richtige Leben.
Was kann ich anstellen, damit Onkel Casimir mich dorthin mitnimmt? Und vielleicht noch ein Stück weiter …
«Wohin fährst du denn?», frage ich.
«Nach Tschechien. Prag. Eine tolle Stadt.»
«Und was hast du geladen?»
«Du bist aber ein neugieriger junger Mann», lacht Onkel Casimir. «Maschinenteile.»
«Was für Maschinen?»
«Genau weiß ich das auch nicht. Es ist der Auftrag einer Firma aus Deva. Und ich bin nur der Fahrer. Ich nehme mal an, es geht um Baumaschinen. Sah beim Einladen jedenfalls so aus.»
«Aha», sage ich und nicke. Er ist ein netter Kerl, er antwortet auf meine Fragen, er behandelt mich nicht von oben herab. Vielleicht zieht die Mitleidstour, denke ich. Ich schaffe es, eine Träne fallen zu lassen, und wische sie schnell mit dem Ärmel fort, so als wollte ich nicht, dass er sie sieht. Verschämtes Weinen bringt auch beim Betteln mehr als offenes Gejammer. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass er mich beobachtet.
«Was ist los?»
«Nichts», sage ich und seufze kurz.
«Abgehauen?»
Ich schüttle den Kopf. Eine weitere Träne fällt dabei auf meinen Pullover. Das war gekonnt. Ich schaue demonstrativ aus dem Fenster.
«Mitten in der Nacht unterwegs. Probleme zu Hause? Schläge?» Als ich nicht antworte, fängt er an zu erzählen: «Ich habe einen Sohn in Deva, er ist etwas jünger als du. Manchmal kriegt er auch was hinter die Ohren. Wenn er es verdient hat. Erst gestern hat er zum Beispiel seinen ungewaschenen Finger in den frisch gebackenen Kuchen
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