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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Luepkes
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Erfahrung brachte. Was es über Aurel aussagte. Seltsam war es schon. Hatte Aurel ein Geheimnis gehabt?
    Sie entkleidete sich langsam. Dieses Shirt hatte sie heute Morgen auf Spiekeroog über den Körper gestreift und noch nicht geahnt, wie das Leben aussehen würde, wenn sie es wieder auszog. War es wirklich derselbe Tag?
    Heute Morgen hatte sie sich vor ihrem Spiegel angezogen, hatte sich betrachtet, erst völlig nackt, dann hatte sie ganz langsam Stück für Stück ihre Haut mit Kleidung bedeckt und sich bei jedem Teil überlegt: Wie würde Aurel es berühren? Es betasten, hochheben, abstreifen? Würde er seine warmen, hellbraunen Finger sanft daruntergleiten lassen und dann mit der Hand ein wenig auf ihrer Haut ausruhen? Mit ihren Haaren spielen?
    Es war seltsam, sie hatte nicht einen Gedanken daran verschwendet, was er sagen würde, wenn er ihre Narben bemerkte. Zum ersten Mal hatte sie sich frei davon gefühlt.
    Annegret schaltete das Licht aus, bevor sie das letzte bisschen Stoff von ihrem Körper entfernte. Es war doch immer noch unerträglich, ihn bei Helligkeit zu sehen. Immer noch unperfekt, asymmetrisch, nicht wirklich weiblich.
    Mit Aurel wäre es egal gewesen. Vielleicht hätte sie bei ihm gelernt, sich selbst zu lieben, so wie sie war. Aber Aurel war tot.
    Es klopfte zaghaft an ihrer Tür.
    «Sebastian», sagte sie nur.
    Er schob sich kaum wahrnehmbar durch die Tür. «Alles in Ordnung?» Den Blick hielt er abgewandt, fast als hätte er sich den Nacken verrenkt. Er sah sie nur selten an, wenn sie unbekleidet war. Nicht weil er sich abgestoßen fühlte, sondern weil sie ihn gebeten hatte, es nicht zu tun.
    «Alles in Ordnung.»
    «Morgen werden die Skulpturen zum Museum gebracht. Ich soll dich von Holländer daran erinnern. Um halb zwölf wollen er und die anderen da sein. Und ich halte es für eine gute Idee, wenn auch du hingehst. Trotz allem.»
    Sie schwieg. Die Ausstellung, ach ja, sie stand unmittelbar bevor, aber Annegret hatte die Erinnerung daran heute von sich geschoben, als habe sie noch alle Zeit der Welt.
    «Annegret?», flüsterte Sebastian.
    «Danke», sagte sie.
    Er schloss die Tür nahezu lautlos.

Straße zwischen Arad und Nadlac
in der Nähe der rumänisch-ungarischen Grenze, karg und kaum befahren
    Noch habe ich keine Ahnung, wie ich es schaffen soll. Noch tragen mich meine Beine fast wie von selbst Schritt für Schritt in Richtung Flucht.
    Hier war ich noch nie. Die Straße zieht sich ewig hin, über mir ein schwarzer Himmel. Bis die Sonne aufgeht, in vielen, vielen Stunden, wird es kalt sein und finster. Es gibt kaum Häuser neben der Straße, dafür Maisfelder links und rechts, so weit in der Nacht bei fahlem Mondlicht das Auge reicht. Die Halme sind erst einen halben Meter hoch. Man sieht keinen Menschen auf dem Land, auf der Straße, in den Häusern. Alle paar Minuten ein Auto.
    Wenn ein Wagen vorbeirauscht, halte ich den Daumen raus. Mir ist klar, keiner nimmt so eine wie mich freiwillig im Auto mit, schon gar nicht mitten in der Nacht. Meine Kleider sind ungewaschen, genau wie das Gesicht. Man sieht mir nicht an, ob ich ein Kerl bin oder ein Mädchen, aber man sieht, dass ich mit Sicherheit einen Grund habe, abzuhauen.
    Und den habe ich. Das Blut auf dem Fußboden war noch nicht getrocknet, als meine Haare wieder millimeterkurz geschnitten waren und ich das alte Theater, in dem meine Familie schlief, noch vor Mitternacht verlassen habe. Nur Victor und Iancu haben es mitbekommen. Ich habe ihnen die Leitung meiner Truppe übertragen, bis ich zurückkomme. Und wenn die Polizei auftaucht, sollen sie mir für alles die Schuld geben. Das Messer, mit dem ich Roland Peters den Hals aufgeschlitzt habe, liegt als Beweisstück noch auf dem Boden in einer Pfütze aus Blut. Sie sollen es auf keinen Fall anrühren, habe ich ihnen gesagt. So können sie sich aus der Sache heraushalten.
    Sie sollen sagen: «Teresa hat den Kerl getötet, weil sie Angst hatte. Dann ist sie geflüchtet, wir wissen nicht, wohin. Wir haben nichts mitbekommen, wir haben die ganze Nacht geschlafen.» Bis auf den letzten Satz entspricht es ja der Wahrheit. Und vielleicht gelingt es ihnen, ihren Kopf zu retten.
    Und mit etwas Glück bleibt mir genügend Zeit, mich aus dem Land zu schmuggeln, bevor der Tag wirklich beginnt und dort in der Stadt alles drunter und drüber geht. Bevor Roland Peters’ rumänische Ehefrau eine Vermisstenanzeige aufgibt. Normalerweise dauert die Suche nach Vermissten in Rumänien eine

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