Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Luepkes
Vom Netzwerk:
meiner Frau gesteckt. Da hat er von mir eine gelangt gekriegt.»
    «Ich habe noch nie Kuchen gegessen.»
    «Nun mach aber mal ’nen Punkt!» Onkel Casimir schaut mich entgeistert an.
    Ich wende mein Gesicht nicht vom Seitenfenster ab. Neben der Straße verläuft eine Stromleitung, die Kabel zwischen den Holzpfählen hängen durch, auf einigen sitzen müde schwarze Vögel und schauen unserem Lastwagen hinterher. «Ich habe schon mal einen Keks gegessen. Aber Kuchen noch nie.»
    «Das gibt es doch nicht!» Er fährt weiter, starrt geradeaus und hat die Arme am Lenkrad gestreckt, als müsse er sich daran festhalten. Wir reden eine Weile nicht, ich weiß, er denkt darüber nach, dass sein Junge Kuchen nascht und ich noch nie so etwas gegessen habe.
    Natürlich stimmt es nicht. Ich habe schon oft Kuchen gegessen. Beim Bahnhofsbäcker liegen die Stücke vom Vortag manchmal neben dem Liefereingang, man kann da gut eines mitnehmen, ohne dass es jemand sieht. Und wenn doch einer der Verkäufer mitbekommt, dass wir gestohlen haben, passiert nichts Schlimmes, schließlich war das Zeug sowieso für Viehfutter oder so bestimmt. Da gönnt man den Straßenkindern auch mal ein Teilchen.
    Aber ich merke, dass meine kleine Lüge Wirkung zeigt. Onkel Casimir ist nachdenklich geworden. «Greif mal in die Ledertasche hinter dir», sagt er schließlich.
    Ich schaue ihn groß an.
    «Ja, ja, mach nur, junger Mann. Neben der Warmhaltekanne ist eine Metallkiste, wenn du sie öffnest, wirst du ein Stück Kuchen finden. Es ist der, den meine Frau gestern gebacken hat.»
    «In den dein Junge seinen Finger hineingesteckt hat?»
    «Ja», er lacht. «Wenn dir das nichts ausmacht?»
    Ich finde das Gebäck und merke erst jetzt, dass ich tatsächlich ziemlich hungrig bin. Seit gestern Nachmittag habe ich nichts mehr gegessen. Es ist ein gelber, weicher Kuchen. Dass er süß ist, kann man schon fühlen, ein klebriger, öliger Film legt sich auf meine Fingerspitzen, als ich mir ein Stück abbreche. Es duftet nach Vanille und Butter. Gierig nehme ich eine große Krume in den Mund. Das schmeckt sehr gut. Nicht zu vergleichen mit dem, was ich bislang für Kuchen gehalten habe. Ich lächle und weiß, dass er mir dabei zusieht. Hoffentlich merkt er jetzt nicht, dass ich ein Mädchen bin. An meinem Lächeln kann man es nämlich erkennen, sagen viele. Ich lache wie eine Prinzessin. Hast du das nicht mal zu mir gesagt, Aurel?
    Wenn er merkt, dass ich ein Mädchen bin, kann vieles passieren. Das weiß ich. Augenblicklich werde ich wieder ernst.
    «Und?», fragt Onkel Casimir. «Nicht gut?»
    «Doch!», sage ich.
    «Warum bist du denn auf einmal so traurig?»
    Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, denke ich. Jetzt kommt es darauf an, dass ich ihn die richtigen Worte hören lasse. Und auf die richtige Art. Nicht zu übertrieben, sonst merkt er, dass ich ihn nur um den Finger wickeln will. Er muss das Gefühl haben, dass es seine eigene Idee und sein eigener Wille sind, mich vielleicht doch noch ein Stück weiter mitzunehmen als nur bis zum Rand von Rumänien. Ich weiß, es ist für ihn eine gefährliche Sache. Also muss ich ihn richtig erwischen, damit er gar nicht anders kann, als mich über die Grenze zu bringen. Und vielleicht auch noch über die zweite. Prag, hat er gesagt. Prag klingt doch schon gut.
    Und Prag ist gar nicht mehr weit von Moordorf entfernt. Glaube ich.
    Ich erzähle stockend. Von meiner Kindheit in Khekheci. Mein Vater ist schon vor meiner Geburt gestorben, weil er sich gegen einen General gestellt hat. Er ist eines Tages einfach nicht mehr zu uns nach Hause zurückgekehrt, und die Menschen haben sich erzählt, er sei hingerichtet worden, Kopfschuss, weil er vor dem Palast herumgeschrien hat. Onkel Casimir ist von meiner Lügengeschichte beeindruckt. Hätte ich ihm erzählt, dass mein Vater in Wahrheit besoffen in den Kanal gefallen und dort im kniehohen Abwasser ersoffen ist, hätte er wohl nicht so sanft und betroffen genickt. Meine Mutter hatte zu viel zu tun, ich bin das älteste von fünf Kindern, einer meiner Brüder ist behindert. Er heißt Ladislaus. Er kann weder gehen noch sprechen, und immer läuft ihm Spucke aus dem Mund, immer tränen seine Augen. Ich bin irgendwann losgegangen, habe versucht, Arbeit zu finden, um meine Familie mit zu unterstützen, aber es gibt in Arad so viele von unserer Sorte. Als ich nichts verdient habe, hat meine Mutter mich fortgeschickt. Und da bin ich eben auf der Straße gelandet. Und nun will ich weiter,

Weitere Kostenlose Bücher