Das Sonnentau-Kind
den gesamten Landstrich zwangssterilisieren zu lassen. Etliche soziologische Abhandlungen beschäftigten sich mit Moordorf und seinen Menschen, man konnte das Dorf fast als Phänomen bezeichnen.
Es war unfair, Moordorf war mehr als das. Es hatte in den letzten Jahren viel getan, hatte sich herausgeputzt und stand im Vergleich zu einigen Nachbarkuhdörfern gar nicht mal schlecht da.
Wencke passierte das Moormuseum, hierher hatten sie mal einen Betriebsausflug gemacht, mit opulentem Frühstücksbüfett in der anheimelnden Teestube. Hübsche Backsteinhäuser, historische Lehmhütten, ein Naturlehrpfad … dieses Freilichtmuseum war ein Paradebeispiel dafür, wie sich die Moordorfer mit ihrer Geschichte auseinandersetzten und es nun besser zu machen versuchten. Neben dem Eingangstor hingen großflächige Plakate, auf denen neben einigen Metallskulpturen das Konterfei einer Frau mit lockigem Haar abgebildet war, darüber ein Schriftzug:
Jahresausstellung Skulpturen «Gestaltenwechsel–Wechselgestalten »
von Annegret Helliger, Eröffnung am 10. Mai um 10 Uhr im Moormuseum,
Veranstalter: Kulturverein für ein neues Moordorf.
Jetzt fiel Wencke wieder ein, dass es im Zeitungsausschnitt, in dem sie das erste Mal dem Namen und dem Gesicht von Annegret Helliger begegnet war, um diese Ausstellungseröffnung im Moormuseum nächste Woche gegangen war.
Wencke brachte ihren Wagen vor dem Hauptgebäude zum Stehen und stieg aus. In einem Plexiglasständer neben dem Eingangsdrehkreuz lagen Faltprospekte auf Hochglanzpapier, das Titelblatt war mit dem Plakat identisch, doch im Innenteil gab es nähere Informationen:
Annegret Heiliger lebt seit zehn Jahren in Moordorf und hat sich wie kaum eine andere Künstlerin mit dem Schicksal ihrer Wahlheimat auseinandergesetzt. Ihre eigenwilligen Metallskulpturen spiegeln die Entwicklung der Gegend, den Wandel vom Elenden zum Reichen, die Metamorphose vom Verstoßenen zum Geliebten wieder. Eine aussagekräftige Ausstellung, die sich in die sehenswerte Umgebung des Moordorfer Museums hervorragend einfinden wird.
Zur Person: A. Heiliger, geboren 1963 in Bramsche, Studium der Kunstpädagogik in Osnabrück, verschiedene Ausstellungen u. a. in Hamburg, Berlin, Bielefeld, zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Niedersächsischer Kunstpreis 2002, Kaiserring Stipendium Goslar 1996 …
Wencke überflog die weiteren Daten zu Annegret Helliger nur flüchtig. Sie interessierte sich schließlich weniger für die künstlerischen Errungenschaften als für die Person, die dahinterstand. Die Frau des Moorkönigs machte einen starken, selbstbewussten Eindruck auf dem Foto; aber Porträts, die man in Prospekten dieser Art veröffentlichte, versprachen oft genug mehr, als sie hielten. Hatte Anivia nicht erzählt, Sebastian Helliger habe sich gestern neben den Kindern auch um seine Frau kümmern müssen? Entweder hat diese Frau eine sensible Künstlerseele, an die Wencke aber nicht so recht glauben mochte, denn ihre Mutter war auch Künstlerin, aber oft genug so sensibel wie ein Holzklotz. Oder aber Annegret Helliger hatte einen anderen Grund, derart heftig auf den Tod ihres Au-pair-Jungen zu reagieren.
Sie steckte den Prospekt ein und nahm wieder hinter dem Steuer Platz. Von hier aus war es nicht weit bis zum Heiliger-Hof. Und sie war nun ungleich optimistischer, dort etwas Interessantes zu entdecken.
Warum, konnte sie nicht genau beantworten. Aber danach fragte sie auch nicht. Sie vertraute ihrer Intuition. Ihr war nur klar, dass sie nach Annegret Helliger und dem Fahrrad Ausschau halten musste.
Nun war sie geradezu ungeduldig, drückte aufs Gas, überschritt die zulässige Höchstgeschwindigkeit bei weitem, nahm die Linkskurve am Ringkanal mit viel Kraft, dann sah sie schon den Giebel des Heiliger-Hofes und bog, links und rechts gesäumt vom rotgrünen Moor, in die lange Auffahrt ein. Die Reifen des Passats knirschten auf dem Kies, Wencke fuhr einen engen Bogen und parkte direkt neben dem Schuppen, in dem sich das Atelier und das Zimmer von Aurel Pasat befanden.
Sie stieg aus. Kein Mensch schien ihre Ankunft zu bemerken, nur der Jagdhund trabte schwanzwedelnd auf sie zu und gab mit seinem freundlichen Bellen einen schlechten Wachhund ab. Wencke tätschelte seinen Rücken und ging auf das Tor neben dem Keramikschild «Kunststücke» zu.
Neben dem Eingang war ein überdachter Fahrradständer, in dem neben zwei funkelnagelneuen Kinderrädern, einem Herren- und einem Damenhollandrad nur noch ein älteres,
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