Das Sonnentau-Kind
und dünn war er. Er hatte so Kleidung an, wie soll ich sagen, nicht so chic wie die anderen, wie ein Jäger …»
«War er schon älter?»
«Nein, höchstens zwanzig. Er hat nicht viel gesagt. Anscheinend kannte ihn sonst auch keiner. Obwohl er behauptet hat, sein Vater lebe hier im Ort.»
«Hat er erzählt, woher er Aurel kannte?»
«Ja, er hat ihn im Moor kennengelernt.»
«Im Moor?»
Emil kletterte unter Anivias Anweisung übermütig vom Wickeltisch und krabbelte in Richtung Spieldecke.
«Er hat gesagt, er arbeitet im Moor und hat Aurel kennengelernt, weil der durch das … wie heißt es in Deutschland … Naturland?»
«Naturschutzgebiet.»
«Genau! Aurel ist durch das Naturschutzgebiet gefahren, mit dem Fahrrad. Und das ist verboten.»
«Das Fahrrad!», fiel es Wencke ein. Sebastian Helliger hatte seinen Au-pair-Jungen vorgestern das letzte Mal gesehen, als dieser mit dem Rad vom Hof gefahren war. Die Mannschaft von der Spurensicherung hatte gestern nicht mehr nach dem Vehikel gesucht, sie hatte ihnen ja auch nichts davon erzählt. Aber es war interessant, zu erfahren, ob es inzwischen wieder im Schuppen an seinem Platz oder in der Nähe der Lagerhalle stand. Es würde Auskunft darüber geben, ob Aurel Pasat den Strick aus dem Atelier bereits in der Tasche hatte, als er sich von seinem Gastvater verabschiedete, oder ob er zwischenzeitlich noch einmal nach Hause gekommen war.
«Soll ich uns einen Kaffee machen?», fragte Anivia.
«Nein, danke. Ich muss los.»
«Aber du musst doch erst um 12 Uhr da sein. Da haben wir noch Zeit.»
«Ich werde noch einen Abstecher machen.»
«Lass mich raten: Nach Moordorf?»
«Du sagst es. Ich schaue mir den Heiliger-Hof und das Drumherum nochmal genauer an.»
Wencke gab Emil einen Kuss, warf sich eine Kopfschmerztablette ein, wusch sich die Hände, zog die Jeansjacke über, schnappte sich den Autoschlüssel und machte sich auf den Weg. Sie war fest entschlossen, heute nicht ohne einen Beweis für den Mord an Aurel Pasat in Aurich aufzutauchen. Oder zumindest nicht ohne ein wasserdichtes Indiz, welches Axel Sanders’ Überzeugung, dass es sich um einen Selbstmord handelte, außer Kraft setzen musste. Und wenn sie später kam, auch sehr viel später, es war egal. Axel Sanders und die anderen sollten nicht denken, dass sie im letzten Jahr irgendetwas von ihrem kriminalistischen Spürsinn verloren hatte.
Als sie mit dem Auto aus der Einfahrt bog, standen Anivia und Emil wieder winkend am Fenster. Die kleine Nase ihres Sohnes klebte platt an der Scheibe. Wencke atmete tief durch. Immerhin fiel es ihr heute schon viel leichter, die beiden allein zu lassen.
Adler-Apotheke Moordorf vormittags
Annegret band den Hund am Zaun neben den Fahrradständern fest. Sie war heute Morgen wie gewohnt zum Spaziergang aufgebrochen, nachdem sie Thorben und Henrike zur Schule gebracht hatte. Sebastian hatte zwar gefragt, ob er das heute übernehmen sollte – ihm war nicht entgangen, dass Aurels Tod sie mehr als nur ein bisschen erschüttert hatte –, doch sie war froh um ein paar Schritte an der frischen Luft und ein Stückchen Alltäglichkeit. Nur dass sie heute nicht den gewohnten Weg durch das Waldstück genommen hatte, sondern durch die Siedlung in Richtung Bundesstraße gegangen war. Um Punkt halb elf kam sie vor der Adler-Apotheke an.
Es gab eine weitere Kundin, eine junge Frau mit quengelndem Baby auf dem Arm, die eine Zahnungshilfe kaufte. Annegret kannte sie nicht, und das war ihr auch lieb so, denn bereits auf dem Weg hierhin hatte sie zu vielen neugierigen Blicken ausweichen müssen.
«Frau Helliger, habe die Ehre», sagte der adrette Apotheker, der die Neugierde über Annegrets Besuch gar nicht erst zu verbergen versuchte. «Ich habe es schon in der Zeitung gelesen. Ihr Au-pair-Junge ist tot. Wie schrecklich. Er war so ein netter Junge.»
Es war schwer, mit den Menschen über das Geschehene zu reden. Doch bei ihrem Gang durch den Ort war es nicht zu verhindern, dass sie von manchen wissbegierigen Fragen aus Moordorf verfolgt wurde. Sie musste es aushalten. Am leichtesten war es, wenn sie sich einsilbig gab.
Hier in der Apotheke war es etwas anderes, hier wollte sie reden. Wie gut, dass der Besitzer es ihr gleich mit den ersten Sätzen einfach machte, das eigentliche Anliegen vorzubringen.
«Kannten Sie Aurel denn?»
«Ja, er war ein paarmal hier. Das müssten Sie doch wissen. Er hat öfter mal Medikamente für die Kinder gekauft.»
«Ach ja …», sagte Annegret
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