Das Sonnentau-Kind
Hände in der Gegend. Und dann stellt Sebastian einen Fahrer und unseren Hausmeister für vier Tage frei, und die können gut anpacken in Rumänien.»
«Ach, Sie meinen diesen Holländer …» Wencke erinnerte sich an den muskulösen Mann, der ihr bei ihrem ersten Besuch auf dem Heiliger-Hof den Privateingang gezeigt hatte. «Nun, dann haben Sie ja wirklich tatkräftige Unterstützung.»
«Wir helfen, wo wir können …»
«Und wie kamen Sie zu Aurel Pasat?»
«Wegen der Au-pairs haben wir immer einfach mal in den Prim ặvarặ- Häusernangerufen. Aurel war ja nicht die erste Kinderbetreuung. Ich … Sie müssen wissen, ich war lange Zeit körperlich geschwächt und auf Hilfe angewiesen, damit Thorben und Henrike gut versorgt waren. Und dann arbeite ich auch viel, so ein Au-pair ist schon was Feines …»
«Wem sagen Sie das …»
«Stimmt, mein Mann erwähnte, dass Sie ebenfalls ein Mädchen haben. Eigentlich wollten wir ja auch immer lieber eine weibliche Nanny, aber als Aurel sich telefonisch bei uns meldete, war es auch recht.»
«Wie war Ihr Verhältnis zu ihm?»
Annegret Helliger arbeitete weiter, spielte weiter, was immer es auch war, sie ließ sich nicht aus ihrem Ablauf werfen, antwortete nur seltsam einsilbig und doch mit einem Sturm aus Gefühl: «Ich war dabei, mich in ihn zu verlieben.»
Wencke stockte. Mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet. Solche Dinge erfuhr man normalerweise nicht direkt und auf Anfrage, sondern bekam sie peu à peu und um tausend Ecken zugeflüstert. Doch diese Frau in den besten Jahren gestand ihr unverblümt, dass sie zärtliche Gefühle für einen Jungen hegte, der ohne Weiteres ihr Sohn hätte sein können. Das ging Wencke beinahe zu schnell.
«Wie?», fragte sie nur.
Annegret Helliger schaute ihr nun das erste Mal geradewegs ins Gesicht. Ihre hellgrünen Augen wirkten kraftlos und müde, man konnte sehen, dass sich Tränen in ihnen sammelten. «Ich habe es mir nicht ausgesucht. Und es ist auch wirklich nichts gelaufen zwischen uns. Aber …»
«Hat er denn Ihre Gefühle erwidert?»
«Im Grunde genommen war er es, der damit angefangen hat. Er hat mir diesen Brief geschrieben.» Sie fasste in eine Tasche, die neben dem Arbeitsplatz an einem langen Nagel hing. Ihre Finger fanden so schnell, was sie suchten, dass Wencke gleich klar war, sie zog diesen Brief nicht das erste Mal aus dem Stoffbeutel. Das Papier schien sich wie von selbst zu entfalten.
«Er schreibt mir, dass er sich nicht für seine Gefühle schämt, sondern sehr glücklich darüber ist, einen Menschen so lieben zu dürfen wie mich.» Sie lächelte, doch trotzdem löste sich zeitgleich die erste Träne aus dem Auge und tropfte auf ihre Schürze. «Er schreibt, dass es ihm egal sei, wenn es keine Zukunft für uns beide gebe, wenn wir uns niemals küssen, uns niemals in den Armen liegen würden. Darum gehe es ihm nicht. Es sei einfach nur Liebe, und die könne er nicht unausgesprochen lassen, wenn er wieder nach Hause fahre.» Sie wischte sich mit ihrem Ärmel über das Gesicht, etwas Lippenstift verschmierte, ihr Mund war ohne die Farbe seltsam blass und fremd.
«Haben Sie Ihrem Mann davon erzählt?»
«Um Himmels willen, nein. Warum sollte ich? Es bestand keine Gefahr, dass wirklich etwas … etwas zwischen mir und Aurel …»
So ganz glaubte Wencke ihr das nicht. Denn auch wenn Annegret Helliger sich gemaßregelt hätte und es nicht bis zum Äußersten gekommen war, gewünscht hatte sie es sich, daran bestand kein Zweifel. Und für Sebastian Helliger wäre allein dieser Wunsch schon von Bedeutung gewesen. Wäre vielleicht sogar Anlass für eine ausgewachsene Eifersucht gewesen. Und Motiv für einen Mord?
War der sanftmütige, blasse Moorkönig ein Mensch, der so funktionierte? Der einen neunzehnjährigen Jungen ermordete, weil dieser für seine Frau schwärmte? Nein, daran mochte Wencke nicht glauben. Es passte vorn und hinten nicht.
«Haben Sie eigentlich auch den Abschiedsbrief gelesen, den Ihr Mann gestern Abend im Briefkasten gefunden hat?»
Annegret Helliger nickte wortlos.
«Und? Irgendwie passen diese beiden Schreiben gar nicht zusammen, finden Sie nicht? In Ihrem Brief schreibt er, dass ihm die Liebe genug ist, dass er nichts fordert. Und in der anderen Botschaft gibt er an, keine Perspektive mehr zu haben. Einmal ist Aurel Pasat im siebten Himmel, und ein anderes Mal befindet er sich im Vorhof zur Hölle.»
Wieder nickte Annegret Helliger stumm, die Tränen waren inzwischen
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