Das Sonnentau-Kind
unterwegs.»
«Und nun steht das Gefährt nicht im Fahrradständer, habe ich recht?»
Sie drehte sich um und hielt sich an ihrem Werktisch fest, als wäre ihr schwindelig. «Es war blau. Wenn Sie es draußen nicht gesehen haben, ist es tatsächlich nicht da. Ist das wichtig?»
«Das kann schon sein», sagte Wencke.
«Ich sage Ihnen Bescheid, wenn es wieder auftaucht.» Der Griff, mit dem sie sich um die Arbeitsplatte krampfte, war so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Ihre Hände waren erstaunlich kräftig, bis auf die lackierten Nägel fast männlich. Sie schien schon länger mit Schweißgerät und Metallschneider zu hantieren. Neben ihren Fingern lagen etliche Bleistiftskizzen auf der Platte, sie zeigten alle ein und dasselbe Modell eines seltsam verkrümmt sitzenden Mannes in verschiedenen Perspektiven, daneben waren fast unleserlich Zahlen und Materialien notiert.
Wencke nahm die Vorderansicht zur Hand. Über dem abstrakten Kopf stand «Rumänien». «Ein Portrait von Aurel?»
Annegret Helliger nickte. «Ich habe es entworfen, bevor ich von seinem Tod erfahren habe. Es soll diesen Zwiespalt symbolisieren, in dem sein Heimatland steckt und auch er selbst gesteckt hat. Irgendetwas zwischen Vergangenheitsbewältigung und Mut.»
« Gestaltenwechsel–Wechselgestalten …»
«Ja, das ist das Motto meiner neuen Serie.»
«Ich habe vorhin das Plakat neben dem Museum gesehen. Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass Sie mit dieser Überschrift Moordorf und Umgebung meinen. Und im Prospekt stand es auch so erläutert.»
«Rumänien und Moordorf haben einige Berührungspunkte. Für meinen Mann und mich besteht diese Erkenntnis durch die Adoption der Kinder schon lange. Doch auch Aurel hat diese Zusammenhänge verstanden. Er hat einmal zu mir gesagt: Auch ihr kämpft mit den Geistern der Vergangenheit, die immer noch lange Schatten auf euer Land werfen und dem, das wachsen soll, das Licht zum Leben nehmen.»
«Eine sehr bildhafte Sprache.»
«Aurel war ein ungewöhnlich begabter junger Mann. Deswegen glaube ich auch nicht, dass er sich das Leben genommen hat. Es hat ihn viel zu sehr interessiert, was noch alles passieren kann.»
«Ob die neuen Dinge doch noch wachsen, meinen Sie?»
«Ja, das meine ich.» Annegret Helliger nahm eine Metallscheibe zur Hand, die laut Skizze am ehesten dem Gesicht zugehörig war. Sie ging damit zu einem breiteren Stück Blech und hielt es dagegen, experimentierte mit wenigen Zentimetern Verschiebung, legte den Kopf schief und war allem Anschein nach wieder in ihre Arbeit vertieft.
«Schaffen Sie es denn, das Stück noch vor der Ausstellungseröffnung fertigzustellen?»
Sie hatte sich einige lange Schrauben zwischen die Lippen geklemmt und murmelte: «Ich werde mir Mühe geben.» Geschickt fixierte sie die kleine Platte mit wenigen Handgriffen und schien mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. «Es macht mir nichts aus, Tag und Nacht daran zu arbeiten. Im Gegenteil, die Ablenkung tut mir gut!»
Sanft streichelte sie die Umrisse des Metalls, es war faszinierend, wie sich ihre markanten Hände wandelten, wie sie vom Handwerk in die Zärtlichkeit verfielen, von einem Moment auf den anderen eine ganz andere Bedeutung bekamen. Wechselgestalten – Wencke kam in den Sinn, dass sich diese Überschrift wohl auch auf die Künstlerin selbst beziehen könnte.
Wencke entschloss sich, das Gespräch wieder in unkünstlerische Bahnen zu lenken. Schließlich wollte sie heute Vormittag auch etwas Handfestes erfahren. «Ich habe gestern mit einem Herrn Peters telefoniert. Er leitet eine Art Schule in Aurels Heimatstadt.»
«Das Prim ặvarặ, nehme ich an. Aurel hat dort mitgearbeitet.»
«Hatten Sie Kontakt zu den Menschen in Rumänien?»
«Diese Einrichtung gibt es in verschiedenen Städten des Landes. Auch in Cluj-Napoca, über diese Schule haben wir damals unsere Kinder vermittelt bekommen. Seitdem unterstützen wir die Einrichtung.»
«Finanziell?»
«Ja, in erster Linie. Und wir organisieren Hilfstransporte in die Gegend. Die Firma meines Mannes hat einen großen Lkw, mit dem wir einmal im Jahr Kleidung, Spielsachen, Möbel und so weiter zu den Bedürftigen bringen. So haben wir auch Aurel kennengelernt.»
«Fährt ihr Mann mit?»
«Früher einmal. Aber inzwischen hat er dazu keine Zeit mehr. Die Hilfstransporte sind Selbstläufer geworden, bestens organisiert. Wir sortieren die Sachspenden hier in Großheide, das ist die meiste Arbeit, aber es gibt etliche helfende
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