Das Sonnentau-Kind
Und zwar geplanter und eiskalt durchgeführter Mord. Zugegeben, auch diese Möglichkeit schien bei einem harmlosen Au-pair-Jungen aus Rumänien nur wenig glaubhaft. Was konnte dahinterstecken? Aurel Pasat war ein ausgesprochen gut aussehender junger Mann gewesen. Es konnte um Liebe gehen, um Eifersucht, vielleicht auch um sexuelle Motive. Wer konnte nachvollziehen, wem der dunkle Fremde hier in Ostfriesland den blonden Kopf verdreht hatte?
Beim Gedanken an Kopfverdrehen stöhne Wencke kurz auf. Sie hatte nicht oft Migräne, aber heute dröhnte ihr der Schädel. Emil hatte eine schlechte Nacht gehabt, Zahnungsprobleme, daran mochte es liegen. Doch auch die Tatsache, dass Axel Sanders sich gestern Abend ihren Vorwürfen entzogen hatte und sang- und klanglos in sein Zimmer verschwunden war, setzte ihr zu.
Warum ging dort in Rumänien niemand ans Telefon? Wütend drückte Wencke den Apparat aus und legte den Hörer neben den Wickeltisch. Emil zeigte beim Schreien seinen Unterkiefer, die ersten Eckzähne zeichneten sich milchigweiß im Zahnfleisch ab, deswegen wahrscheinlich der unruhige Schlaf. Wenckes Gewissen zwickte ein wenig, weil sie sich – gereizt durch die Müdigkeit, aber auch durch die verkorkste Situation im Büro – als ungeduldige Mutter erwiesen hatte, die den kleinen Schreihals einfach hatte brüllen lassen, so gegen halb vier nachts. Es tat ihr leid, Emil konnte doch nichts dafür. Sie seufzte.
Ihr war entgangen, dass Anivia hinter ihr im Raum stand, sie brachte gerade einen Korb zusammengelegter Wäsche herein. «Ich mach das schon», sagte diese prompt, und Wencke fühlte sich noch elender. War sie noch nicht einmal in der Lage, ihrem Sohn die Windeln zu wechseln? Was kriegte sie denn überhaupt noch gebacken? Früher war ihr alles so leicht gefallen, da hatte sie …
«Mach dir nicht so viele Gedanken», sagte Anivia. Im Handumdrehen hatte sie die Klamotten in den Kleiderschrank eingeräumt und stellte sich neben Wencke, nahm ihr den Lappen und die Creme aus der Hand. Selbst wenn Wencke gewollt hätte, gegen ihr eifriges Au-pair-Mädchen hatte sie keine Chance.
«Kannst du später noch zur Adler-Apotheke fahren und eine Zahnungshilfe kaufen? Das ist so eine weiße Creme, die Emil vielleicht ein wenig den Schmerz nimmt.»
«Wird gemacht!», sagte Anivia.
«Eine gute Mutter hat so etwas normalerweise immer im Arzneischränkchen stehen …»
«Emil wird das bisschen Wehweh schon überleben, stimmt’s, mein Supermann?» Anivia näherte sich mit ihrem Gesicht dem Jungen, der augenblicklich seinen Mund, der den ganzen Morgen schon verkniffen gewesen war, zu einem Lächeln umstellte. Wencke seufzte frustriert.
«Übrigens», führte Anivia fröhlich fort, während sie Emil fachmännisch verpackte, «ich war gestern doch noch bei dieser Party.»
«Wie bitte? Du wusstest doch, dass Aurel …»
«Ja, natürlich. Aber woher sollten seine Gasteltern wissen, dass ich es wusste?» Anivia lächelte stolz. «Ich dachte, es ist interessant, zu erfahren, wie diese Leute Aurels Gästen erklären, warum die Party nicht stattfindet.»
«Und? Was haben sie gesagt?» Wencke musste zugeben, sie fand den Aktivismus ihres Kindermädchens durchaus spannend.
«Nicht viel. Der Gastvater war da. Er sah ziemlich fertig aus. Er sagte nur, dass Aurel sich das Leben genommen hat, weil er nicht in die Heimat fahren wollte. Dann ist er wieder ins Haus gegangen, er musste sich um die Kinder und seine Frau kümmern.»
«Um seine Frau?»
«Ja, er sagte, sie sei auch total am Ende.»
«Ach», gab Wencke von sich.
«Aber es war trotzdem interessant.»
«Ach ja?»
«Bis uns so ein unfreundlicher Typ fortgeschickt hat, bin ich mit den anderen Gästen noch einen Moment zusammengeblieben. Wir standen da im Garten herum und haben über Aurel gesprochen. Und keiner hat geglaubt, dass es Selbstmord gewesen ist. Kein Einziger!»
«Was waren denn dort für Leute? Alles Mitschüler aus dem Sprachkurs?»
«Ja, die meisten. Aber ich kannte nicht jeden. Einen Junge zum Beispiel, er heißt Jakob, habe ich noch nie gesehen. Er war ein bisschen komisch.»
«Wieso komisch?»
«Na ja, er hat sich dauernd umgeschaut, als warte er, dass Aurel doch noch auftaucht. Außerdem passte er nicht zu den anderen Leuten. Ich mag solche Typen ja eigentlich nicht, er hatte rötliche Haare. Schöne Locken, aber einen schlechten Friseur, wenn du mich fragst. Ein paar Haare am Kinn und diese Punkte im Gesicht …»
«Sommersprossen?»
«Ja, genau,
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