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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Luepkes
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zögerlich. Sie hatte Aurel nie hierher geschickt, um Arznei für Henrike oder Thorben zu holen. «Vor sechs Wochen …»
    «Genau. Ich hoffe, Ihre Kinder haben diese … merkwürdige Infektion inzwischen gut überstanden. Der Kinderarzt ist ja sonst eher sparsam mit Antibiotika. Auch bei Privatpatienten, wie Sie es sind.»
    Annegret nickte nur. In ihrer Handtasche fühlte sie die zerknüllte Plastiktüte mit dem Kassenbon über einhundertzwanzig Euro.
    «Und wie nehmen die Kleinen nun den Todesfall auf? Die Ostfriesischen Nachrichten schreiben von Selbstmord. Wie tragisch.»
    «Die Kinder sind ziemlich durcheinander. Eigentlich wäre Aurel heute in seine Heimat zurückgekehrt. Mit dem Abschied haben sie sich also schon auseinandergesetzt. Aber das er auf diese Art von uns gehen würde …»
    Wofür hatte Aurel die Medikamente gebraucht? Und wie war er an die ihr völlig unbekannten Rezepte des Kinderarztes gelangt? Antibiotika? Infektionen? Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, starrte wohl etwas unwirsch in die Gegend, der Apotheker schaute besorgt.
    «Brauchen Sie etwas zur Beruhigung?», fragte er und ging beinahe automatisch in die Ecke, in der sich Kräutertees und andere nicht verschreibungspflichtige Produkte stapelten.
    «Ja», sagte Annegret. «Johanniskraut oder so etwas in der Art.»
    Der Apotheker lief mit dem Finger über die verschiedenen Verpackungen. «Und wie geht es Ihnen, Frau Helliger? Ich meine, Sie hatten doch vor wenigen Monaten Ihre … Ihre letzte Operation, oder nicht?»
    «Ja», sagte Annegret schlicht. Ihr kam in den Sinn, wie viel so ein Dorfapotheker eigentlich wusste. Immer bestens informiert über die Wehwehchen seiner Kunden.
    «Alles gut verlaufen?», hakte er nach.
    «Es ist alles in Ordnung. Ich denke, jetzt bin ich wirklich am Ende der Behandlung.»
    Der Mann seufzte und legte eine Packung Dragées auf den Tresen. «Das war ja sicher auch eine Tortur. Diese ganzen Hormone … Aber nun sehen Sie wirklich wunderbar aus. Man merkt Ihnen nicht an, dass Sie …» Jetzt registrierte er erst, dass diese fremde Frau mit dem Baby noch im Raum stand und er sich alles andere als diskret verhielt. Er räusperte sich. «Ich hoffe das Beste für Sie und Ihre Familie.» Er schaute sie durchdringend an, und Annegret nahm sich fest vor, in Zukunft ihre Medikamente in Aurich zu kaufen.
    «Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?»
    Draußen bellte der Hund. Annegret zuckte die Schultern. «Sie hören ja selbst, ich bin wieder gefordert. Es muss schließlich weitergehen, verstehen Sie?»
    Der Apotheker scannte das Beruhigungsmittel ein und nickte verständnisvoll. «Acht Euro fünfundneunzig», forderte er.
    Annegret Helliger zahlte, die junge Frau mit dem Baby auf dem Arm hielt ihr die Tür auf, und verließ grußlos die Apotheke.

Auf dem Weg nach Moordorf
Wenckes Wagen gibt sein Bestes
    Die Straßen waren grausam. Das bunte Muster aus Flickstellen ließ keine Rückschlüsse darauf ziehen, welches Asphaltstück einmal das ursprüngliche gewesen war. Bei jedem Schlagloch, das den Wagen zum Holpern brachte, hatte Wencke das Gefühl, ihr Kopf sei ebenfalls gerade überrollt worden. Wann wirkte endlich das Aspirin?
    Am Abelitzkanal bog sie links ab und polterte auf der schnurgeraden Uferstraße in Richtung Westen. Es war nicht weit nach Moordorf. Irgendwann machten Wasser- und Autostraße eine Kurve nach rechts, dann wieder geradeaus, so weit das Auge blickte. Viel Heidekraut, viele Birken, viel von dem bisschen, was das Moor überhaupt wachsen ließ. Es war eine schlichte, aber schöne Gegend. Auch wenn sie einen schlechten Ruf hatte. Nicht nur bei den Kollegen, die hier für die Verbrechensbekämpfung zuständig waren.
    Moordorf – inzwischen mit dem unsäglichen Spitznamen Morddorf versehen – hatte in ganz Ostfriesland, welches ja ohnehin schon als etwas hinterwäldlerisch abgetan wurde, den Ruf, noch weiter am Rand der Welt zu stehen. Die Wurzeln für dieses Vorurteil lagen in den katastrophalen Zuständen zur Zeit der Moorkolonialisierung, wo man in dieser Gegend einfach vergessen hatte, die Torfstecher und ihre Familien mit der nötigen Infrastruktur zu versorgen. Kaum Schulen, kaum Geschäfte, kaum ärztliche Versorgung. Die Gemeinde Moordorf war Anfang des 20. Jahrhunderts lange Zeit durch eine städtebauliche Fehlplanung auf sich allein gestellt gewesen. Gerüchte von Inzest und Verblödung der Bevölkerung hielten sich hartnäckig, im Dritten Reich hatte es sogar den Plan gegeben,

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