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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Luepkes
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die Schule, das Abitur, das Ökojahr, die Zukunft in Kanada, es gab vieles, was man über die Erinnerung stapeln konnte.
    Bis das Leid vor wenigen Wochen so unsanft wieder hervorgekramt wurde, von den Ereignissen hier am Heikeschloot. Als er Aurel getroffen hatte, mit ihm ins Gespräch gekommen war, ihn eingeladen hatte, doch ruhig mal mit den Kindern im Moor vorbeizuschauen, wenn er Lust hätte. Die Kinder waren dunkelhaarig, fremdartig, aber angenehm aufgeweckt gewesen. So nett hatte der Tag begonnen, und Jakob hatte schon an so etwas wie eine neue Freundschaft geglaubt mit diesem Aurel, der so freundlich war und so ein strahlendes Lachen hatte. Er hatte die drei begeistern können für die Natur, für die Vögel. Und natürlich für den Sonnentau, diese kleine, fleischfressende Pflanze im Verborgenen.
    Bis er dann vom Wurzelkobold erzählt hatte, so ganz beiläufig, wie er es bei jeder Führung tat, egal, ob für die Großen oder Kleinen. Er holte gern die Skizze heraus, sprach von seinem verstorbenen Vater, der ihm vom fremden Wesen in den Bäumen erzählt hatte. Stets hatte er damit Aufmerksamkeit, Belustigung und ein bisschen Mitleid eingeheimst. Bis zu diesem Ausflug mit Aurel und den Kindern, als das kleine Mädchen plötzlich sein Portemonnaie herausgeholt, darin herumgefingert und ihm ein Bild unter die Nase gehalten hatte, welches mit dem in seinen Händen nahezu identisch gewesen war.
    Dieser Gnom mit den funkelnden Augen, den komischen Falten, den filzigen Haaren, er hatte genauso ausgesehen wie seine kleine Reliquie, nur wesentlich neuer, noch nicht zerfleddert und vergilbt. Das Mädchen hatte gesagt: «Schau mal, meine Mama malt auch so gut. Sie ist Künstlerin. Sieht doch echt genauso aus, oder?»
    Und er hatte genickt und sich endlich erinnert. Daran, dass er einmal seinen Vater gesehen hatte, vor der Schule, als er schon zum Gymnasium gegangen war, viele Jahre nachdem seine Mutter vom Tod Andreas Isselmeers gesprochen hatte. Da hatte ein Mensch bei den Fahrradständern gestanden und ihn angestarrt. Jakob hatte damals gleich gewusst, dass es sein Vater gewesen war. Als die Person langsame Schritte auf ihn zugemacht hatte, war er schnell, sehr schnell auf sein Fahrrad gestiegen und geflüchtet. Er wollte nicht mit einem Vater sprechen, der lange Haare hatte, Lippenstift und einen bunten Rock trug. Er hatte nie wieder darüber nachgedacht, geschweige denn mit jemandem darüber gesprochen. Der Verdrängungsmechanismus funktionierte wie geölt. Kein Wunder, nicht wenige seiner Kindheitsgeschichten waren im seelischen Irgendwo gelandet. Es hatte doch immer funktioniert. Bis dieses Mädchen das Bild gezeigt und von seiner Mutter gesprochen hatte.
    «Was ist eigentlich los? Du sagst ja gar nichts.» Anivia stand vor ihm und machte eine Wischbewegung vor seinen Augen. «Aufwachen, junger Mann! Ich würde gern wieder zu meinem Auto zurück. Aber du musst mir den Weg durch diesen Dschungel zeigen. Ich habe keine Ahnung, wie es zurückgeht. Überall diese Blumen.»
    Jakob reagierte überhaupt nicht.
    Sie wurde lauter. «Ich muss zur Polizei, ein echter Job, ich kann mithelfen, einen Täter zu überführen. Also, hey, Jakob, was ist denn los? Wo müssen wir lang?» Langsam schlich sich Misstrauen in ihre Stimme. «Hör auf, so zu gucken, das ist ja unheimlich. Los, zeig mir endlich den Weg!»

In einem kalten Raum grau und beängstigend
    Sie stehen da rum und warten, ich habe keine Ahnung, worauf. Die kleine Frau mit den roten Haaren tippt immer wieder auf einem Telefon herum, atmet tief und ungeduldig, schüttelt den Kopf und sieht ratlos aus. Zwischendurch streitet sie sich mit dem großen Mann, der einen so feinen dunklen Anzug trägt, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Schon seit einer halben Stunde geht das so. Telefonieren – streiten – telefonieren – streiten …
    Zu mir sind sie freundlich, bringen sehr guten Kaffee und Kekse, lächeln zwischen ihren angespannten Gesprächen in meine Richtung, fragen mich ab und zu etwas in ihrer fremden Sprache. Es wundert mich, dass sie so nett sind.
    Eigentlich müssen sie doch denken, dass ich es getan habe. Dass ich es war, die dieser Frau in diesem seltsamen Grashaus das schwere Gerät auf den Kopf geschlagen hat. So lange, so oft, bis diese einen seltsam dumpfen, glucksenden Laut von sich gegeben hat und erst in den Knien und dann mit dem Rest ihres Körpers eingeknickt ist. Sie müssen denken, dass ich die Täterin bin, denn ich habe dort neben der Frau

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