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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Luepkes
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mit Aurel im Moor, dies alles war ihm suspekt. Und auf seinen direkten Blick reagierte sie irritiert.
    Das Handyklingeln schien ihr gerade recht zu kommen, hastig griff sie in ihre kitschige, mit Fransen und Perlen verzierte Handtasche.
    «Ja, Wencke?» – «Hmm, kann sein, dass ich das Klingeln nicht gehört habe, als ich mit dem Auto gefahren bin. Emil hat geweint. Die Zähne …» – «Nein, keine Sorge, mit Emil ist alles okay.» Sie schnitt eine schiefe Grimasse.
    «Was?» – «Wann?» – «Wer war es?»
    Anivia schlug sich die Hand vor den Mund, sie schien eine schockierende Nachricht am Telefon erfahren zu haben. Jakob ging einige Schritte voraus, hatte die Ohren aber voller Konzentration auf das Telefonat gerichtet. Ob es um die Sache im Moormuseum ging?
    «Ein rumänisches Mädchen? War sie es?» – «Ach so, Zeugin, hmm.» – «Übersetzung? Aber ich kann nicht wirklich gut Rumänisch, Wencke.» – «Ich bin hier im Moor. Mit Emil. Und mit diesem Jakob, du weißt, der Freund von Aurel, der Naturmann.» Sie lächelte ihm zu, nur kurz, das Telefonat schien sie betroffen zu machen.
    In Jakob breitete sich etwas aus. Ein ungutes Gefühl würden manche es nennen. Aber er kannte sich besser, er wusste, dass es nur als solches begann, als ungutes Gefühl, und dass sich bei ihm daraus ganz schnell eine rasende Wut entwickeln konnte. So ruhig und passiv er nach außen hin wirken mochte – manche würden ihn sogar langweilig nennen –, wenn er sich in die Ecke gedrängt fühlte, übervorteilt, verarscht, dann wurde er zu einem anderen Menschen. Es durfte ihm nicht passieren. Nicht schon wieder. Nicht hier. Er versuchte, sich zu beruhigen. Sie wollte ihm doch mit Sicherheit nichts Böses. Sie war nur eine neugierige junge Frau, die es aus irgendeinem Grund auf ihn abgesehen hat. Außerdem hatte sie ein Kind dabei.
    Er musste sich zusammennehmen.
    «Ja, okay, ich komme. In zwanzig Minuten bin ich da. Emil soll ich dann ja wohl mitbringen?» – «Gut. Bis gleich.»
    Sie legte auf und blieb stehen. «Annegret Helliger wurde im Moormuseum überfallen. Ein Mädchen aus Rumänien hat es gesehen», sagte sie eine Spur zu sensationslüstern.
    «Das kann nicht sein …», sagte Jakob.
    «Doch. Es ist schlimm, nicht wahr? Sie wollen, dass ich sofort nach Aurich komme. Zur Polizei. Sie brauchen mich, um dieses Mädchen nach dem Fall befragen zu können, als Dolmetscherin sozusagen … Annegret Helliger, erschlagen … Vielleicht weiß diese Rumänin, wer es getan hat.»
    In Jakobs Kopf schlug ein Blitz ein. Ja, genau damit konnte man das Gefühl beschreiben, wenn er sich zu wandeln schien, wenn sich sein Innerstes nach außen kehrte. Es war, als wenn ein gewaltiger Stromschlag die Regionen seines Wesens aktivierte, die sonst reglos und vergessen vor sich hin schlummerten. Es war die unberechenbare Seite von Jakob Mangold, da waren Gefühle, die sich nicht steuern ließen, jene Gefühle, die lahmgelegt worden waren, als sein Vater von einem Tag auf den anderen und ohne Vorwarnung die Familie verlassen hatte. Wenn sie hervorkam, diese Seite, dann fühlte er wieder diesen Schmerz, wie damals.
    Papa, warum muss ich hierbleiben, bei Mama, sie erdrückt mich, sie lässt mich keinen Zentimeter weg, sie nimmt mich gefangen. Papa, ich kann ja verstehen, dass du nicht bei ihr bleiben willst, nicht bei uns bleiben willst, ich kann ja verstehen, dass du lieber tot bist, aber bitte, bitte, warum nimmst du mich nicht mit, warum lässt du mich allein, warum bin ich dir egal, warum hast du noch nicht einmal auf Wiedersehen gesagt, Papa …
    Am besten war die Zeit gewesen, als seine Mutter sich – er musste ungefähr zehn gewesen sein – endlich einmal neu verliebt hatte. Leider nur eine kurze Episode. Schon nach drei Monaten war sie verheiratet gewesen, doch der Mann hatte es nicht lange bei ihr ausgehalten. Dieses Klammern, dieses Misstrauen, diese Enge … Er war nach weniger als einem Jahr geflüchtet, und das Einzige, was er zurückgelassen hatte, war sein Nachname, den Jakob nach der Hochzeit angenommen hatte, um das trügerische Familienidyll seiner Mutter zuliebe noch zu komplettieren. Ein zweites Mal allein gelassen, hatte sich das Problem noch mehr zugespitzt und war schließlich unerträglich gewesen. Aber irgendwie war es Jakob gelungen, alles zu vergessen, abzuschieben, den Schmerz über den fehlenden Vater und die klammernde Mutter zu verdecken mit anderen Dingen, die in seinem Leben eine Rolle spielten. Die Freunde,

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