Das Sonnentau-Kind
lassen.
Satter Frühlingsduft aus den Gärten der Feriensiedlung wehte vom Ufer der Hieve herüber. Das gute Wetter hatte den Flieder an den Bäumen zwei Wochen früher sprießen lassen. Schwer hingen die traubenförmigen Blütenballen weiß, hell- und dunkellila an den Ästen. Hier in der Meedenlandschaft war der Boden fruchtbar, hier wuchs saftiges Gras für die schwarzbunten Milchkühe, die sich wie zur Begrüßung am Gatter versammelt hatten, an dem jetzt sein Rad lehnte. Die Tiere glotzten zu ihnen hinüber, nicht neugierig, eher gleichgültig, das Wiederkäuen sah aus, als hätten sie sich vor Langeweile Kaugummis ins Maul gesteckt. Eine Kuh muhte und machte kehrt, der Rest der Herde folgte ihrem für menschliche Ohren unverständlichen Kommando und trottete ebenfalls auf die Weide.
Jetzt waren sie allein. Einige Schritte weiter begann das Seeufer mit seinem dicken Schilf und den trotz der Regenarmut immer noch feuchten Schleichwegen.
Anivia machte sich daran, den Kinderwagen aus dem Kombi zu ziehen, aufzubauen und den quengeligen Jungen hineinzusetzen.
«Er kriegt Zähne», erklärte sie beiläufig. «Aber wenn wir gleich losmarschieren, beruhigt er sich, schläft vielleicht ein und macht uns keine Probleme.» Das Kind schrie lauter, wie um zu demonstrieren, dass es ganz etwas anderes vorhatte, als sich zu beruhigen und problemlos zu sein.
Sie gingen den schmalen Trampelpfad entlang, Jakob schlug den Weg in Richtung Naturschutzgebiet ein, er wollte sich der Stelle nähern, an der er damals Aurel zum ersten Mal begegnet war. Das war wenig riskant, denn bis zu dem Ort, den sie besser nicht zu sehen bekommen sollte, waren es noch einige Kilometer. Er würde sie erst auf den richtigen Weg und dann in die Irre führen.
Der Pfad war fast schon zugewachsen, außerhalb der Führungen war das Betreten dieser Zone den Normalsterblichen verboten. Da hatten Schafgarbe und Brennnesseln genügend Zeit zum Wuchern. Viel breiter hätte der Kinderwagen nicht sein dürfen, schon jetzt war Anivia ständig damit beschäftigt, das Unkraut vom Gesicht des Jungen abzuwehren. Doch das Kind machte trotzdem Krawall.
«Hast du vielleicht irgendwas zum Spielen? Gestern in deinem Zimmer hast du Emil diese Dose mit den Klammern gegeben, da war er ganz begeistert.» Sie lächelte und zwinkerte ihm zu. «Und ich auch, übrigens, fand ich total süß von dir, wie du auf das Kind geachtet hast …»
Jakob hatte noch nie viel daran gelegen, von jemandem «süß» gefunden zu werden. Trotzdem kramte er während des Laufens in seinem Beutel. Alles war besser als ein schreiendes Kind. Da war doch dieser Zettel. Dieses abgegriffene, uralte Ding, welches jahrelang in seinem Portemonnaie gesteckt hatte, bis er es heute Vormittag ein letztes Mal hervorgezogen hatte.
Den Schock in den Augen des anderen würde er nie vergessen. Da, schau her, was ich noch immer bei mir trage …
Jetzt war es wertlos geworden. Es machte nichts aus, wenn der kleine Junge im Buggy daran herumlutschte, es zerriss und ins Gebüsch warf. Jakob hätte die Skizze seines Vaters ohnehin heute in den Müll geschmissen. Denn dahin gehörte sie, jetzt, wo Andreas Isselmeer endlich wirklich tot war.
«Hier, Kleiner. Ein Wurzelkobold. Die leben unten in den toten Baumwurzeln …»
Bevor der Junge nach dem Zettel greifen konnte, schnappte das Mädchen danach und betrachtete grinsend die Skizze. «Na, ich weiß ja nicht, ob so ein unheimliches Bild das Richtige ist, um Emil zu beruhigen.»
«Warum hast du ihn überhaupt mitgebracht? Ich dachte, ich hätte mich gestern klar ausgedrückt in puncto Kinderkarre im Moor.»
«Meine Gastmutter musste heute doch noch aufs Revier …»
«Revier?», hakte Jakob direkt nach. Am Gesichtsausdruck gegenüber erkannte er sofort, dass das Mädchen sich verplappert hatte.
«Wo arbeitet sie denn?»
«So genau weiß ich das auch nicht, ich habe keine Ahnung, wie das im Deutschen heißt …»
Das war eindeutig eine verdammt faule Ausrede. Sie konnte sehr gut Deutsch, sie war wissbegierig, sie wollte etwas verheimlichen. Für Jakob war klar, was Revier bedeuten konnte. Wahrscheinlich weniger Forst-Revier, ihm kam gleich die andere grüne Truppe in den Sinn, er dachte an die Polizei.
Was hatte das zu bedeuten? War es Zufall?
«Sie ist Polizistin?», fragte er und schaute Anivia durchdringend an. Er konnte sich nicht helfen, dieses Au-pair-Mädchen, ihr ständiges Auftauchen, ihr merkwürdiges Interesse an seiner Person und den Begegnungen
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