Das Sonnentau-Kind
nichts als vage Ideen, was hinter dieser Geschichte stecken konnte. Doch für Wencke setzte sich ein Bild zusammen, in dem fast alle Teile passten. Aurels Andeutungen über die wichtigen Sachen, die er vor seiner Rückkehr in die Heimat zu erledigen hatte. Er hatte nach den Kindern, auch nach dem Bruder von Teresa gesucht. Dies entsprach seinem Engagement für die Straßenkinder in Arad, denen Teresa angehörte. Vielleicht war auch der Mord dort in Rumänien an dem Prim ặvarặ- MannRoland Peters eine Rachegeschichte, weil Teresa dahintergekommen war, was mit ihrem behinderten Bruder, er war sogar ihr Zwillingsbruder, geschehen war.
Und dann – Wencke konnte sich nicht wehren, ihre Gedanken rasten ebenso schnell wie Axel Sanders’ Sportwagen auf der B 210 –, dann hatte Teresa auch noch einen Mord an Annegret Helliger begangen, weil diese ebenfalls mit der Sache zu tun hatte oder es zumindest danach aussah. Ja, das machte Sinn, jedenfalls mehr als das Märchen vom unbekannten Totschläger, welches Teresa ihnen aufzutischen versuchte.
Auch wenn die Handschrift des Mordes wiederum nicht zu diesem Mädchen passte. Gut, sie war ein anderes Kind als Thorben und Henrike, als Emil und wahrscheinlich auch als dieser Jakob, mit dem Anivia jetzt unterwegs war. Teresa hatte andere Werte, andere Vorstellungen von Moral und Gerechtigkeit. Dennoch konnte Wencke es nicht glauben, dass diese Teresa die weite Strecke von Rumänien bis Moordorf auf sich nahm, um Aurel zu finden, der sie vor der Strafverfolgung im Heimatland schützen sollte, und dass das Erste, was sie hier tat, ein weiterer brutaler Mord an einer fast Fremden war.
Beim besten Willen, das passte nicht. Dann hätte Teresa impulsiv sein müssen, aufbrausend und verzweifelt, ganz zu schweigen davon, dass sie auch einige Zentimeter Körpergröße zusätzlich benötigt hätte, um Annegret Helliger derart zu traktieren.
Die Nachricht von Aurels Tod hatte das Mädchen nur kurz und heftig in Aufruhr versetzt, dann hatte es sich wieder im Griff gehabt, hatte zwar traurig, aber doch gefasst gewirkt. Hätte sie heute Mittag einer Frau den Schädel eingeschlagen, viele Male, mit dem erstbesten Gegenstand, der ihr in die Finger gelangt war, dann hätte sie anders gewirkt, anders gesessen, anders geatmet, anders geschaut. Nein, Teresa war Wenckes Intuition zufolge nur eine Zeugin in diesem Fall.
Doch wer hatte es dann getan? Sebastian Helliger? Aber er war zur Tatzeit in seinem Betrieb in Großheide gewesen, er kam nicht infrage. Sein Handlanger, dieser Holländer? Nun, das wäre zumindest denkbar.
Sanders hatte kurz vor ihrem Aufbruch zum Großen Meer nach Sebastian Helliger suchen lassen. Dieser hatte in der Kantine einen Kaffee trinken wollen. Es war noch vor Teresas Aussage gewesen, als Wencke ihn um Erlaubnis gebeten hatte, die Kinder nur einen kleinen Moment für die wichtigsten Informationen als Übersetzer einsetzen zu dürfen. Er hatte seltsam flach genickt und dann gefragt, ob er denn eben eine ruhige Minute für sich … mit Kaffee … und dann mal im Krankenhaus nach seiner Frau fragen … bitte, bitte! Bei so viel Unterwürfigkeit hatte Wencke ihm den Weg zur Kantine einfach zeigen müssen. Obwohl ihr klar war, er sollte eigentlich bleiben, wo er war. Schließlich war er verdächtig, da konnte er noch so unschuldig schauen, es war klar, dass er mehr wusste, als er bislang zu Protokoll gegeben hatte. Es ärgerte Wencke, dass sie sich an der Nase hatte herumführen lassen. Denn natürlich war Sebastian Helliger weder in der Kantine noch auf den Toiletten, noch sonst wo zu finden gewesen. Ein Anruf im Kreiskrankenhaus verriet, dass er auch nicht bei seiner Frau am Krankenbett saß und ihr die Hand hielt. Der Moorkönig hatte sich aus dem Staub gemacht. Er hatte sicher geahnt und befürchtet, dass dieses rumänische Mädchen von dem Lager im Moor wusste. Wenn es das Lager tatsächlich gab. Bislang war es nur wenig mehr als eine Vermutung.
Doch wenn sich diese als Wahrheit herausstellte, so würde der Moorkönig in diesem Moment dorthin unterwegs sein, wahrscheinlich mit Helfershelfern im Schlepptau, er würde keine Zeit verstreichen lassen, um alle Spuren zu beseitigen. Wenn er bereit gewesen war, zu morden, dann wäre er auch jetzt berechnend genug, trotz seiner schwerverletzten Frau und der verunsicherten Kinder alle Hebel in Bewegung zu setzen, damit sein grausiges Geheimnis im Moor unentdeckt blieb.
Sie mussten schneller sein als er. Deswegen hielt Sanders
Weitere Kostenlose Bücher