Das Sonnentau-Kind
sieht alles danach aus.»
«Ich hoffe wirklich, du hast diesen Satz irgendwann selbst einmal satt: Es sieht alles danach aus … Dass ich nicht lache! Bei Aurel Pasat sagtest du auch, es sieht alles danach aus, dass er es selbst getan hat. Und wenn du dich jetzt wieder irrst? Was ist, wenn diese Teresa es nicht gewesen ist? Der Arzt sagte, es müssen mindestens zehn Schläge auf den Kopf gewesen sein, mit voller Wucht, dieser Torfstecher war blutgetränkt. Aber Annegret Helliger hat eine kräftige Statur, sie ist mindestens einen Kopf größer als Teresa und sicher um einiges stärker. Glaubst du, sie ist geduldig stehen geblieben und hat sich von einem mageren Straßenkind den Schädel zertrümmern lassen?»
«Du hast recht, es klingt unwahrscheinlich, aber …»
«Wenn sie es nicht war, dann läuft dort draußen jemand rum, der eine Mordswut im Bauch zu haben scheint.»
Sanders sagte gar nichts, überhaupt war es, nachdem Wencke es aufgegeben hatte, ihr Au-pair-Mädchen zu erreichen, sehr still im Zimmer, und man hörte draußen auf dem Flur Kinder und die Stimme einer Frau, die gerade jedes Detail der Auricher Polizeibehörde pädagogisch bravourös erklärte. «Und hier ist das Zimmer, in dem wir die Menschen befragen.»
«Die Verbrecher?», fragte eines der Kinder.
«Und die Zeugen. Immer wenn man ungestört ein langes Gespräch führen muss, geht man hier hinein.»
«Bin gleich wieder da», sagte Wencke in Sanders’ Richtung und öffnete die Tür. Vor ihr standen ein Junge und ein Mädchen, beide dunkel und samtig, mit staunenden Augen, die Schulranzen noch auf den Schultern. Die Kollegin von der Streife lächelte. «Und das ist unsere Kriminalhauptkommissarin Wencke Tydmers, eine ganz wichtige Person in diesem Haus.»
«Hallo», sagte Wencke und gab beiden Schülern die Hand. «Ihr kommt gerade im richtigen Augenblick. Denn ich habe ein paar Fragen, und dafür nehme ich euch mit in das wichtige Zimmer, von dem ihr gerade gehört habt.»
«Wir haben aber nichts angestellt», sagte das Mädchen.
«Doch, du hast gestern bei meinem Rad das Rücklicht kaputtgetreten», petzte der Junge, lachte kurz und wurde gleich darauf ernst. «Aber in echt sind wir wegen Aurel hier, stimmt’s?»
Wencke nickte, bedankte sich mit einem Augenzwinkern bei der Kollegin und ging mit den Kindern in das benachbarte Zimmer. Es war besser, wenn die Kinder sich vorerst an sie gewöhnten, bevor sie Teresa gegenübertraten und vielleicht sogar als Dolmetscher eingesetzt werden mussten.
Der Junge ließ sich gleich auf einen der beiden Stühle fallen. «Das war cool, als uns die Polizisten von der Schule abgeholt haben. Die anderen haben alle geguckt wie die Autos.»
«Dann ist es ja gut, wenn es euch gefallen hat. Euer Vater hat befürchtet, ihr würdet einen Schrecken bekommen, wenn ein Streifenwagen für euch bereitsteht.»
«So ’n Quatsch», sagte das Mädchen und setzte sich ebenfalls. «Ist Mama denn auch da?»
«Nein …», begann Wencke langsam.
Doch der Junge unterbrach sie: «Mama hat doch keine Zeit. Sie muss arbeiten. Am Sonntag macht ihre Ausstellung auf. Meine Mutter ist nämlich Künstlerin, sie macht Metallskulpturen, Riesendinger, wussten Sie das?»
Der Junge sah Wencke stolz entgegen.
«Meine Mutter war auch Künstlerin», sagte Wencke lächelnd. «Aber sie hat gemalt.»
«Meine Mutter kann auch malen», sagte das Mädchen eifrig. «Ganz toll sogar, schauen Sie mal …» Sie setzte den Ranzen ab und kramte ihre Federmappe hervor. Hinter einer durchsichtigen Plastikschlaufe klemmte eine Skizze, die sie Wencke hinhielt. Man erkannte einen knubbeligen, freundlichen Zwerg mit leuchtenden Augen, der es sich in einem Wust aus Wurzeln bequem gemacht zu haben schien.
«Das ist ein Wurzelkobold, der lebt in umgekippten Baumstümpfen. Hat meine Mutter mir mit Bleistift gezeichnet. Toll, nicht wahr?»
Heikeschloot am Großen Meer Schafgarbe, Flieder und eine Herde glotzender Kühe
Jetzt hatte sie doch das Gör mitgebracht. Und trug hochhackige Schuhe. Hier im Moor. Wie dämlich war diese Anivia eigentlich?
Und wie dämlich war er selbst? Jakob hätte die Sache abblasen können. Oder einfach nicht zum Treffen erscheinen. Schließlich war heute sein freier Nachmittag, und er war niemandem Rechenschaft schuldig, was er tat und was er lieber bleiben ließ.
Nur der Gedanke, dass es ihn irgendwie verdächtig machen könnte, wenn er nicht um 15 Uhr am Treffpunkt Heikeschloot erschien, hatte ihn hierher kommen
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