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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Luepkes
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gehockt, weil ich nicht in der Lage gewesen bin, über sie hinwegzusteigen, um die Hütte zu verlassen. Ich konnte das einfach nicht. Zu viel ist geschehen in den Minuten, seit diese Annegret Helliger auf mich zugekommen ist mit einem Gesichtsausdruck, als hätte sie mich dort erwartet.
    Vorhin habe ich ein paar Worte verstanden. Nach Ladislaus haben sie gefragt, nach meinem Bruder. Sie hatten diesen Namen genannt, den ich wahrscheinlich nie wieder vergessen werde, sie haben von Roland Peters gesprochen. Also wundere ich mich noch mehr, dass sie mich weder schlagen noch fesseln. Wenn sie von der Geschichte im Teatrul vechi wissen, dann müssten sie sich doch ihrer Sache ziemlich sicher sein. Oder nicht?
    Das Schlimmste ist, dass ich nicht weiß, was mit dir los ist, Aurel. Aber ich habe eine Vermutung. Ich traue mich nicht, länger darüber nachzudenken. Es ist nur eine Ahnung, die darauf beruht, dass alle so seltsam geschaut haben, wenn ich deinen Namen ausgesprochen habe. Aurel. Da haben sie traurig ausgesehen. Alle.
    Annegret Helliger, die Rothaarige, der Polizist, der mir Wasser gebracht hat, alle haben kurz gezuckt und dann zu Boden geschaut. Und ich denke, es ist, weil … Ach Mensch, ganz ehrlich: Hätten sie dich nicht schon längst hierher kommen lassen, damit du die Sprache übersetzen kannst? Ich bin doch nicht blöd. Es gibt einen Grund, weswegen sie dich nicht holen. Du kannst nicht kommen. Weil du … Nein, ich will nicht darüber nachdenken. Es ist zu schlimm.
    Was ist hier in Moordorf nur passiert?
    Wieder telefoniert die Frau, wieder schüttelt sie den Kopf, dann sagt sie etwas zu dem schicken Mann, noch lauter und bestimmter als zuvor, ich wette, sie ist seine Chefin, schließlich geht sie hinaus, er stöhnt genervt, schaut kurz in meine Richtung, wendet sich ab. Ich habe keine Ahnung, welches Spiel die beiden da spielen.
    Kurz darauf erscheinen zwei Kinder im Büro, etwas schüchtern, aber ohne Angst lassen sie sich von der Polizistin bis zu meinem Stuhl führen. Sie sehen aus wie Rumänen, das erkenne ich gleich, und mir ist klar, es müssen die Kinder von Annegret Helliger sein, der Junge und das Mädchen, die vor Jahren aus einem Waisenheim in Cluj-Napoca geholt wurden, um in Deutschland ein besseres Leben zu führen. Man sieht ihnen an, dass sie eine andere Kindheit hatten als zum Beispiel Iancu oder Alexandru. Ihre Haare glänzen und sind gerade geschnitten, ihre Zähne sind weiß und gesund, auf ihrer Haut kann man keine einzige Narbe erkennen. Sie sehen wunderschön aus. Sie stehen aufrecht vor mir. Dann sprechen sie mich an, in meiner Heimatsprache, fast ohne Akzent. Es sind die ersten Worte seit meinem Abschied von Onkel Casimir, die ich verstehe. Und doch überlege ich, nicht hinzuhören, weil ich ahne, sie erzählen mir gleich, was mit dir ist, Aurel.
    Nein, seid still, sagt nichts. Ich möchte es nicht wissen. Ich möchte denken und hoffen, dass gleich die Tür aufgeht und er hereinkommt, mich ansieht, lächelt, den Arm um mich legt, fragt, was ich hier in Moordorf wolle, so weit weg von zu Hause, ob ich die Schule schwänze, ob ich die Familie allein lasse, ob ich ihm nicht zutraue, dass er allein den Weg zurück nach Rumänien findet. Doch sie hören mein stummes Flehen nicht. Sie sagen mir ihre Namen, fremde Namen, die ich noch nie gehört habe, und dann sagen sie mir, wenn ich Aurel suchte, käme ich zu spät. Aurel sei tot. Seit zwei Tagen. Und die Polizei wolle herausfinden, was passiert sei. Und sie seien auch ganz traurig, sie hätten ihn lieb gehabt.
    Ich glaube ihnen. Natürlich hatten sie ihn lieb. Natürlich sind sie nun traurig.
    Aber diesen Schmerz kennen sie nicht. Diesen Schmerz, der einen befällt, wenn man es schon lange geahnt hat und dann zur Gewissheit wird, dass alles, worauf man baute, verschwunden ist. Fort. Für immer.
    Schon als Aurel damals in den Bus stieg, habe ich gedacht, es kann sein, dass ich ihn nie wiedersehe. Es ist gefährlich, was er in Moordorf tun will.
    Menschen, die behinderte Kinder klauen, müssen Teufel sein. Und Teufel machen gerade einem Engel wie Aurel das Leben zur Hölle.
    Aurel ist tot. Und ich möchte sterben.

Sehr schnell auf der Bundesstraße in
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