Das Sonnentau-Kind
das Gaspedal ohne Rücksicht auf Verluste kraftvoll durchgedrückt.
Wenckes Handy meldete sich. Sie hoffte, Anivias Nummer auf dem Display zu erkennen, doch es war Strohtmanns Dienstanschluss.
Wo steckte sie nur? Und Emil?
«Strohtmann hier. Du wolltest doch informiert werden, welche leer stehenden Gebäude es im Naturschutzgebiet am Südufer gibt. Ich hab mich da mal schlau gemacht.»
«Und?»
«Die Frau vom zuständigen Katasteramt war zum Glück noch am Arbeitsplatz. Ist ja auch nicht unbedingt selbstverständlich. Im Gegensatz zu uns legen die doch um halb vier den Stift zur Seite.»
Typisch Strohtmann, er hatte kein Gespür dafür, wann seine ewigen Nörgeleien über Nebensächlichkeiten absolut überflüssig waren. «Was ist denn nun? Wir sind unterwegs. Axel biegt gerade in Richtung Feriensiedlung ab. Also?»
«Zwei leer stehende Bauernhöfe, ein verfallener Metallcontainer, ehemals für Asylbewerber in die Walachei gestellt, aber was dich am meisten interessieren wird …» Der Empfang war einen Moment unterbrochen. Immer in diesen Augenblicken, dachte Wencke. Wir fliegen ins Weltall, aber auf der Erde gibt es noch immer Flecken, wo weiterhin getrommelt werden muss. Auch wenn hier Ostfriesland war, der Rand der Zivilisation, wenn man sarkastisch war, trotzdem gab es hier und jetzt keine Entschuldigung für das Versagen der modernen Telekommunikation. Es ging um Menschenleben, um viele Kinder, versteckt seit Monaten oder Jahren, wer konnte das noch nachvollziehen? Es ging vielleicht auch um Anivia und um Emil. Wencke schlug mit der flachen Hand gegen die Airbagklappe. Es war nicht auszuhalten. «Strohtmann? Kannst du mich hören? Hallo?»
Endlich war seine Stimme wieder verständlich, zerhackstückt zwar, aber immerhin da. «… Helliger. In einem Waldstück südlich des Ufers …» – «… rund zweihundertfuffzig Quadratme…» – «…gerschuppen, ähnlich wie in Mo…»
Nichts.
«Wenn ich dich richtig verstanden habe, ist hier in der Nähe ein Lagerschuppen, der ebenfalls den Helligers gehört. Strohtmann, ist das korrekt?» – «Bestätige bitte!» Wieder schwieg das Handy erbarmungslos. Ein Blick auf das Display verriet Wencke, dass der Ladebalken für das Empfangssignal komplett verschwunden war. Das Bild änderte sich, «Netzsuche» stand nun dort. Es war zum Heulen.
«Axel, schaust du mal auf deinem Handy? Meins ist mausetot!»
Er verlangsamte die Fahrt nur einen Moment und reichte ihr sein Gerät mit einem Schulterzucken. Wie befürchtet machte sich auch bei ihm das Funkloch breit.
«Soll ich umdrehen?», fragte Sanders.
«Und Sebastian Helligers Vorsprung weiter vergrößern? Nein, wir müssen ihm auf den Fersen bleiben. Wenn es ihm gelingt, den Ort zu räumen, stehen wir ziemlich dumm da. Wer weiß, wohin er die Kinder dann bringt.»
«Wenn es das ominöse Lager überhaupt gibt und dieses Straßenmädchen uns nicht ein rumänisches Märchen aufgetischt hat», murmelte Sanders.
Sie explodierte fast. «Noch einen Spruch dieser Art, und ich werde mir genau überlegen, was ich in meinen Bericht über die bisherigen polizeilichen Aktivitäten im Fall Aurel Pasat schreiben werde.»
Er kniff den Mund zusammen.
«Bodenanalyse … Trinkwasserflasche … Medikamente …», reihte Wencke sicherheitshalber noch einige für Sanders unbequeme Begriffe aneinander, damit er bloß nicht auf die Idee kam, kehrtzumachen. Trotzdem, auch wenn sie inzwischen das Naturschutzgebiet des Südufers erreicht hatten und sich zumindest in der Nähe des Ortes befanden, an dem eine Lösung – wie immer sie auch aussah – zu finden war, Wencke hatte trotzdem das Gefühl, ins Blaue zu ermitteln. Sie wusste, ihre Vermutungen waren alles andere als eine Grundlage, auf der man schnell und effizient handeln konnte.
«Was sollen wir jetzt machen?», fragte Wencke rhetorisch. Sanders würde sich nicht mehr trauen, etwas zu erwidern. Auch wenn er sie durchschaute, sie hatte ihn eben mit ihrer versteckten Drohung mundtot gemacht. Nun ließ er sie zwar in Ruhe, jedoch bedeutete es auch, dass er sie allein machen ließ.
Immerhin hatte die vertrackte Situation eine gute Seite: Vielleicht waren ihre Sorgen um Anivia und Emil unbegründet. Es konnte doch sein, dass sie ebenfalls keinen Handyempfang hatten, schließlich steckten sie hier irgendwo im Umkreis von wenigen Kilometern. Vielleicht hatte sie einen Grund, der sie davon abgehalten hatte, nach Aurich zu kommen, aber sie konnte Wencke einfach nicht Bescheid geben.
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