Das Sonnentau-Kind
Alles könnte sich so lapidar erklären: Emil hatte Probleme gemacht, ganz harmlose Probleme, vielleicht war er gefallen und hatte sich … hmm … das Knie aufgeschlagen … Oder waren es die Zähne? Bekamen zahnende Kinder nicht ab und zu wie aus heiterem Himmel Fieber? Eine im Prinzip ungefährliche Temperaturerhöhung, die ihn schwächte und quengelig machte? Und Anivia war so vernünftig, dann keine Reise mehr mit ihm zu unternehmen. Ja, so wird es gewesen sein. Und dieser Jakob half ihr in der Situation. Er war sicher ein netter junger Mann, immerhin hatte er sich mit ihr getroffen, hatte ihr das Moor gezeigt, war ihrer Neugierde im Fall Aurel Pasat so freundlich begegnet. Es wird schon alles in Ordnung sein. Ihre Panik resultierte doch wieder nur aus diesem Gefühl der Unzulänglichkeit, aus diesen Zweifeln, eine gute Mutter zu sein. In Wirklichkeit war alles okay. Und wenn ihr Handy gleich wieder Empfang bekam, würde auf dem Bildschirm bestimmt das Symbol für einen Anruf in Abwesenheit aufblinken. Alles ganz normal. Alles ganz harmlos. Und jetzt musste sie ihren Job tun und dieses schreckliche Lager finden.
Südufer des Großen Meeres querfeldein
Als sie merkte, dass sie nicht in Richtung Auto liefen, hatte sie erst ganz naiv gefragt: Warum denn? Ist das eine Abkürzung, oder hast du dich etwa verirrt?
Immerhin war der Junge inzwischen eingeschlafen. Sie liefen tiefer in den Dschungel aus Schilf, Birken, wucherndem Kraut und Gestrüpp. Er kannte sich hier aus, sie hatte augenscheinlich jegliche Orientierung verloren. Gut so.
Dann hatte ihr Handy geklingelt, sie hatte auf das Display geschaut – «Sie warten schon auf mich, sie werden fragen, wo ich bleibe» –, und er hatte mit einem schnellen, ausholenden Tritt das Gerät aus ihrer Hand geschlagen. Es flog im hohen Bogen in die Büsche, und sie hatte ungläubig hinterhergeschaut. In diesem Moment muss ihr spätestens klar geworden sein, dass es keine gute Idee gewesen war, sich hier mit ihm im Moor zu treffen. Aber sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Wahrscheinlich hoffte sie, so Zeit zu gewinnen. Ihn in Sicherheit wiegen und zwischenzeitlich nach einem Ausweg suchen. Sie war ja im Prinzip ganz vernünftig, diese Anivia, eine super Nanny, die wusste, was das Beste war, um sich und das Kind zu schützen.
«Deine Mutter und ich hatten uns entschieden, dir nichts zu sagen, weil wir dich schützen wollten.» Das hatte sein Vater ihm heute Morgen gesagt. Nach mehr als zehn Jahren hatte ein Satz diesem Schlappschwanz als Erklärung gereicht. Natürlich hatte er im Moormuseum mehr Worte gemacht, nachdem er begriffen hatte, wem er gegenüberstand. Doch als Entschuldigung hatte er nur dieses Argument hervorgebracht: dass es seinem eigenen Schutz gedient hätte, ihm all die Jahre eine widerliche Lüge aufzutischen.
«Deine Mutter hatte es sehr schwer, verstehst du? Sie dachte, unser ganzes Leben sei auf Unwahrheiten gebaut, und du seiest das Kind meiner Heuchelei.»
War er das nicht auch?, hatte er gedacht. Hatte sein Vater ihn nicht vielleicht deswegen gezeugt, weil er der Welt und sich selbst hatte zeigen wollen, dass er ein echter Mann war? Als es nichts änderte, als der Beweis zwar erbracht, sich aber dennoch als sinnlos erwiesen hatte, war von Vatergefühlen nicht mehr viel übrig geblieben. Kind einer Heuchelei, er fand den Begriff schmerzlich zutreffend, doch er hatte geschwiegen und seinen Vater weiterreden lassen.
«Für deine Mutter ist alles in sich zusammengebrochen, als ich ihr erzählt habe, was ich wirklich empfinde. Deswegen haben wir uns damals auch getrennt. Es war ihr nicht möglich, meinen Weg zu begleiten, sie konnte es nicht akzeptieren.»
Aber warum hast du mich verlassen, hatte er seinen Vater gefragt. Wenn die Ehe aufgrund des – wie sollte man diese Sache bloß nennen, Gestaltenwechsel? Ließ sich das Schicksal tatsächlich so lapidar auf diesen Begriff reduzieren, den sein Vater als Motto seiner Ausstellung gewählt hatte? Wenn die Beziehung seiner Eltern die Umwandlung nicht überlebt hatte, musste dann zwangsläufig auch das Verhältnis zwischen seinem Vater und ihm leiden? Seine Fragen hatten lange im Raum gestanden. Sein Vater hatte keine Antwort parat gehabt. Dies war verwunderlich, schließlich musste ihm doch all die Jahre klar gewesen sein, dass er seinem Sohn im Falle einer Begegnung genau diese Erklärungen schuldig bleiben würde. Erst nach einer quälend langen Minute hatte er etwas zu erwidern
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