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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Luepkes
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gewusst.
    «Es war klar, dass du bei ihr bleiben würdest. Die vielen Operationen, die ganze Veränderung, ich wäre nie in der Lage gewesen, dich zu behalten, obwohl ich es gewollt habe. Und dann hat deine Mutter die Zeit mit dir für sich genutzt, hat dir erzählt, ich sei gestorben, hat mich aus deinem Leben gestrichen, ohne dass ich etwas dagegen unternehmen konnte. Vielleicht hätte ich etwas machen können, das Jugendamt einschalten, einen Kinderpsychiater kontaktieren, ja, es hätte Möglichkeiten gegeben.»
    Sein Vater hatte mehrere tiefe Atemzüge lang über seine eigenen Sätze nachgedacht und dann kraftlos den Kopf geschüttelt. «Ich steckte doch selbst in einer schwierigen Phase, da blieb keine Kraft für diese Dinge übrig. Ich dachte, ich könnte es lösen, wenn das Schlimmste überstanden ist. Dann wollte ich zu dir kommen und dir sagen, was wirklich mit deinem Vater geschehen ist.»
    Aber du hast es nicht getan, hatte er gesagt. Tonlos, ohne Rührung. Sein Vater war zusammengezuckt.
    «Das stimmt nicht, einmal war ich tatsächlich da, habe vor deiner Schule gewartet. Du warst schon so groß, du wirktest so wie alle anderen Jungs, die nach Schulende aus dem Gebäude strömten. So normal, ich dachte, es gibt so viele in deinem Alter, die mit nur einem Elternteil groß werden. Halbwaisen oder Scheidungskinder, egal, aber du warst bestimmt nicht der Einzige in deiner Klasse, der bei einer alleinerziehenden Mutter lebte. So hast du gewirkt, als du mit deinem halbseitig geschulterten Ranzen zum Fahrrad gegangen bist, ganz unproblematisch und normal. Du hast mich angeschaut und nicht erkannt. Da wusste ich, es war zu spät.»
    Er hatte genickt, eigentlich hatte er vorgehabt, überhaupt nicht zu reagieren, sich regungslos alles anzuhören, keine Miene dabei zu verziehen. Doch es war ihm in dem Moment nicht gelungen. Er hatte sich wieder an diesen verdrängten Moment erinnert, er wusste noch, wie sich der kalte, lange Schauer angefühlt hatte, damals, als er so unverhofft einem Totgeglaubten gegenübergestanden hatte.
    «Jakob, es war das erste Mal, dass du mich als Frau gesehen hast. Mir war schon klar, dass es dich … nun, wie soll ich mich ausdrücken, aus dem Konzept gebracht hat …»
    Aus dem Konzept gebracht, hatte er ihn mit hämischem Tonfall nachgeäfft und direkt nach diesen Worten dem Vater vor die Schuhe gespuckt. Es hatte ihn damals umgeworfen, es war wie ein Feuer- und Kältetod zugleich gewesen.
    Sein Vater nahm seine Reaktion mit einem gelassenen Lächeln auf. «Für mich war es damals unglaublich schwer. Es war das erste Mal, dass ich meinem Sohn in meiner neuen Gestalt begegnet bin. Ich hatte mich vorher stundenlang zurechtgemacht, hatte es mit Jeans probiert, mit Herrenhemden und Lederjacke, zurückgesteckten Haaren. Doch dann war es mir am ehrlichsten erschienen, einen Rock zu tragen, die Haare geöffnet, ein wenig Lippenstift, so wie ich mich eben wahrnehme, als Frau, als Annegret Isselmeer. Aber dann bist du schnell verschwunden. Du hast keine Regung gezeigt, keine Spur des Wiedererkennens. Mir war von diesem Tag an klar, dass es keine Möglichkeit mehr gab, dir jetzt noch die Wahrheit zu sagen, ohne alles zu zerstören. Du dachtest, dein Vater sei tot, du hast dich damit abgefunden. Du trugst inzwischen einen anderen Namen, hattest dich also auch in dieser Hinsicht von mir emanzipiert. Und war das nicht vielleicht gut so? Diese Erscheinung am Schulhof, diese Frau mit dem Gesicht deines Vaters – falls du sie überhaupt wahrgenommen hast, wirst du sie in Sekundenschnelle verdrängt haben. Selbstschutz, ich kann das verstehen. Warum sollte ich dich all dem aussetzen? Deine Mutter ist eine liebenswerte Frau, die dir alles geben konnte, was du brauchtest. Oder nicht?»
    Wenn du wüsstest, war durch seinen Kopf geschossen. Sie hat mir nicht nur alles gegeben, sie hat mich zugedeckt mit ihrer Liebe und ihrer Verzweiflung. Sie hat mich verschüttet. Unter dem Gebirge von Mutterliebe konnte ich keine Luft mehr bekommen. Und niemand war da, der mich rausgeholt hätte, niemand war da …
    Sein Vater hatte sicher keine Vorstellung von alldem. Der Redeschwall in der Lehmhütte hatte kein Ende genommen. Er hätte gern weggehört, doch die Worte übten einen magischen Zwang aus, der ihn daran gehindert hatte, sich die Ohren zuzuhalten.
    «Und selbst wenn du immer geahnt hast, dass ich nicht tot bin, sondern nur eine seltsame Verwandlung durchgemacht habe, du wolltest es lieber nicht wissen, du

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