Das Sonnentau-Kind
wolltest lieber einer von diesen ganz normalen Jungs sein. Ich habe mir an diesem Tag vorgenommen, mich dir nicht mehr zu nähern, dich in Ruhe zu lassen. Es mag sich seltsam anhören, aber diese Entscheidung geschah nur aus Liebe zu dir. Dann habe ich Sebastian geheiratet, wir haben die Kinder adoptiert. Es ging mir besser. Auch wenn nichts von alldem die Wunde, dich verloren zu haben, heilen konnte.»
Blanker Hohn war es, dass sein Vater von einer Wunde gesprochen hatte. Vielleicht war es genau dieser Satz gewesen, der ihn nach dem Holzknüppel hatte greifen lassen.
Wer hatte das Recht, hier Schmerzen zu empfinden? Ein Toter? Einer, der gegangen war, auf Nimmerwiedersehen? Der ihn alleingelassen hatte mit dieser Mutter, die nie wieder an etwas glaubte, die keine Wahrheit mehr annehmen konnte, die stets Beweise dafür forderte, dass man sie liebte?
«Was ist dir wichtiger: eine Zeltfreizeit oder deine Mutter?» – «Du willst ausgerechnet heute mit deinen Freunden spielen gehen? Hast du mich denn gar nicht mehr lieb?» – «Komm, schlaf bei mir im Bett, heute Nacht soll es ein Gewitter geben …»
Er hatte sich um seine Mutter gekümmert, sie war doch so allein, der Vater war tot, er musste nun für sie da sein, er war jetzt der Mann im Hause. In der Klasse fanden sie ihn sonderbar, nannten ihn Muttersöhnchen, später Ödipus. Und jede Kleinigkeit, die bei den anderen selbstverständlich gewesen war, hatte ihn Kraft gekostet. Jeder Geburtstagsparty, zu der er ausnahmsweise mal eingeladen gewesen war, war eine tränenreiche Auseinandersetzung mit der Mutter vorausgegangen. Und wenn er sich endlich einmal durchgesetzt hatte, hatte das schlechte Gewissen sich wie ein Begleiter zu ihm gesellt, ihn abgeschirmt und ihm das Fest verdorben. Erst jetzt war es gut geworden, als er nach dem Abitur diese Stelle hier angetreten und seiner Mutter das Versprechen abgenommen hatte, ihn in Ruhe zu lassen. Würde sie ihn bis hierhin verfolgen, so hatte er gedroht, dann würde er nie wieder ein Wort mit ihr reden. Und obwohl er nicht damit gerechnet hatte, sie hatte ihn ernst genommen, sie hatte sich daran gehalten, und er war so frei wie noch nie zuvor in seinem Leben.
Doch nun hatte er seinen Vater getroffen, quicklebendig. Auge in Auge hatten sie sich heute gegenübergestanden. Sein Vater, der von Schmerzen und Wunden sprach und dabei lächelte. Das durfte nicht sein. Er hatte nicht jahrelang dessen Rolle übernommen, die Mutter getröstet und immer wieder Beweise für seine Liebe erbracht, um schließlich herausfinden zu müssen, dass Andreas Isselmeer in Wahrheit die ganze Zeit am Leben gewesen war. Nein, das durfte nicht sein. Er musste den Zustand ändern, er musste die Lüge seiner jahrelang gültigen Wahrheit anpassen. Er musste diesen Menschen, Mann oder Frau, töten. Erst dann wäre da wieder diese Freiheit, nach der er sich so lange verzehrt hatte …
Ihm war klar, früher oder später würde die Polizei hinter die Zusammenhänge kommen. Obwohl sein Vater wirklich nicht wiederzuerkennen war – er sah tatsächlich aus wie eine Frau, wie eine warmherzige, schöne Frau –, in den Akten war bestimmt irgendwo vermerkt, dass der zusammengekrümmte Mensch am Boden der Lehmhütte früher einmal ein ganz anderes Leben unter dem Namen Andreas Isselmeer geführt hatte. Und dann war der Weg nicht mehr weit, bis man auf seine Mutter und ihn stieß, bis man die alte Familie des Andreas Isselmeer entdeckte, bis man den unscheinbaren Naturschutzjungen Jakob als dessen Sohn erkannte. Und der nächste Schritt wäre seine Überführung als Mörder. Lange würde es nicht mehr dauern. Und was war dann mit seiner Freiheit?
Was war mit Kanada? Dem weit entfernten Ufer, an das er gelangen wollte? Auf dem Weg dorthin sollte dieses verwunschene Große Meer doch nur eine Zwischenstation bedeuten, eine Möglichkeit, ein bisschen Geld zu sparen, inzwischen war es schon ein bisschen mehr, der Moorkönig zahlte, wenn man die Klappe hielt. Zehntausend auf dem Konto und dann auf und davon. So war es geplant.
War ihm das Moor nun zur Endstation geworden? War sein Traum vom neuen Leben für immer unmöglich?
Jakob war in seiner Wut schnell und rücksichtslos durch das Gelände marschiert. Den Buggy mit dem schlafenden Kind zog er hinter sich her wie ein Gepäckstück, das man bereute, mitgenommen zu haben. Das Rufen des Mädchens in seinem Rücken nahm er nicht wirklich war. Sie kam nicht hinterher, knickte mit dem Fuß um, verfing sich im
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